Der Söldnerführer auf Tour durch Russland
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Jewgeni Prigoschin

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"Natürlich zur falschen Zeit": Risse in Putins Truppe

Der russische Söldnerführer Prigoschin will keine Befehle von Verteidigungsminister Schoigu befolgen und löst damit eine hektische Debatte aus - mitten in einer Offensive der Ukraine. "Das ist natürlich die falsche Zeit", klagen Propagandisten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Die innenpolitischen Spannungen um Prigoschin nehmen proportional zur Spannung an der Front zu. Wer hätte letztes Jahr gedacht, dass es so weit kommen würde", seufzte ein russischer Blogger, der von einem "gefährlichen Symptom" sprach, dass es dringend zu entschärfen gelte, falls der Kreml seinen "Realitätssinn" nicht ganz verloren habe.

Offenbar ist der russischen Regierungszentrale allerdings jede Kontrolle über Privatarmee-Betreiber Jewgeni Prigoschin entglitten. Gerüchteweise wurde ihm ein Gouverneursposten angeboten, was er brüsk ablehnte: "In Russland gibt es ein Sprichwort: Es ist besser, als Held zu sterben, denn als Schwuchtel zu leben. Deshalb ist es besser, für das Vaterland zu fallen, als sein Leben in einer bürokratischen Befehlskette in die Länge zu ziehen", postete der Söldnerchef. Zuvor hatte er es entschieden abgelehnt, seine Leute dem Oberbefehl des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu unterzuordnen, wie es ein neues Dekret ab 1. Juli vorsieht.

"Leider verfügt Militär nicht über Effizienz"

Seine Truppe werde "keine Verträge" mit den Behörden abschließen, betonte Prigoschin. Die militärischen Aktivitäten koordiniere er nach eigenem Ermessen mit den Generälen an der Front, er habe schließlich "größte Erfahrung und eine äußerst effektive Struktur". In welche Richtung dieser Wink mit dem Zaunpfahl gemeint war, erläuterte Prigoschin auch: "Leider verfügen die meisten Militäreinheiten nicht über eine solche Effizienz, und zwar gerade deshalb, weil Schoigu militärische Formationen nicht normal verwalten kann. Daher gilt die Tatsache, dass er Dekrete oder Befehle verfasst, ausschließlich für das Verteidigungsministerium und diejenigen, die innerhalb des Verteidigungsministeriums tätig sind."

Er wolle mit Schoigu auch auf die Gefahr hin, "keine Waffen und Munition" mehr zu bekommen, nichts zu tun haben, so der umtriebige Söldnerchef: "Selbst wenn der Donner droht." Ausschließlich Putin persönlich könne den Leuten von "Wagner" sagen, was sie zu tun hätten. Kein Wunder, dass diese harsche Abfuhr für das Verteidigungsministerium die Militärblogger aufwühlt, und nicht nur die, zumal gerade höchst widersprüchliche Nachrichten von der Front einlaufen. Die Offensive der Ukraine ist wohl deutlich erfolgreicher, als von Propagandisten zunächst behauptet worden war.

"Viele wollten Pluralismus"

"Der Augenblick für einen Konflikt innerhalb unserer bewaffneten Kräfte kommt während der Offensive der Streitkräfte der Ukraine natürlich zur falschen Zeit", klagte der kremlnahe Politologe Sergej Markow. Er verwies darauf, dass die Mitarbeiter von Prigoschin im Unterschied zu russischen Soldaten "jederzeit kündigen" könnten. Blogger Gregori Bovt schrieb sarkastisch: "Viele wollten Pluralismus in der Politik und im Parteileben. Und so kam es, allerdings dort, wo sie es nicht erwartet haben. Viele regionale Konflikte sind durch einen solchen Pluralismus sogenannter Warlords gekennzeichnet. Bei uns ist das natürlich nicht der Fall, aber Herr Prigoschin will den Leuten weismachen, dass es an der Front offenbar keine einheitliche Befehlsgewalt braucht."

Wenn Jewgeni Prigoschin mit seiner Haltung "durchkomme", so ein Blogger, bedeute das nichts weniger, als dass er den "gleichen Einfluss wie der Verteidigungsminister" habe: "Bei einem solchen Tempo werden unter der Flagge des wichtigsten russischen Rebellen bald föderale und regionale Mittelklasseakteure herbeiströmen, die nicht den [alten] Elitegruppen angehören. Bald wird es möglich sein, über eine vollwertige Prigoschin-Gruppe zu sprechen."

"Krise in der Armee"

Einflussreiche Blogger verweisen darauf, dass es in mehreren Regionen Russlands Tendenzen gibt, eigene Truppen aufzustellen, etwa in grenznahen Gebieten: "Gerade wegen der Krise in der Armee, wegen der Unfähigkeit des Verteidigungsministeriums, seine Bürger wirksam zu schützen, begann die Führung in den Regionen, die Frage nach der Schaffung von eigenen, vollwertigen Milizen offen zu stellen, sie wollen ihre eigenen Freiwilligen und Söldner. Nicht nur in der Region Belgorod, wo [Gouverneur] Gladkow Fragen an das Verteidigungsministerium hatte, sondern auch in so weit von der Ukraine entfernten Regionen wie der Region Pskow."

Aus "Brüdern" wurden Streithähne

Große russische Konzerne wie Gazprom hatten ebenfalls bereits darüber nachgedacht, wie Prigoschin in die Söldner-Branche einzusteigen, was die Lage zunehmend unübersichtlich macht. Nicht leichter wird die innerrussische "Gefechtslage" auch dadurch, dass Prigoschins Konkurrent, der tschetschenische Machthaber und "Ultrapatriot" Ramsan Kadyrow, mit ihm über Kreuz geraten ist. Kadyrow wirft Prigoschin inzwischen sogar "Korruption" und Veruntreuung öffentlicher Gelder vor, weil Prigoschins Firma an den Lebensmittellieferungen für die Armee gut verdiene und dabei wohl Mittel abzweige. Bis vor einigen Wochen bezeichneten sich die beiden Streithähne noch als "Brüder". Gern wird Prigoschin unter die Nase gerieben, dass einer seiner Söldner, ein ehemaliger Häftling aus Samara, der von ukrainischen Truppen gefangen genommen wurde, die Seite gewechselt hat. Dass darauf herumgeritten wird, soll wohl die Unzuverlässigkeit von Prigoschins Leuten beweisen.

"Russland ist längst kein Rechtsstaat mehr"

Ein Blogger meinte dagegen, Prigoschin könne seine Privatangestellten je nach Belieben "sogar nach Afrika" bringen, und falls es Russland so schlecht gehe, dass die Söldner an der Front unabdingbar seien, werde sich sowieso niemand mehr an Schoigus Anweisung erinnern: "Denn die Russische Föderation ist längst kein Rechtsstaat mehr, sondern ein konzeptioneller." Die offizielle Armee hat es bei den überwiegend nationalistischen Bloggern auch deshalb schwer, weil durchsickerte, dass sie deren Aktivitäten schärfer zensieren will. Die Posts könnte ansonsten "die öffentliche Stimmung negativ beeinflussen".

Konservative Parlamentsabgeordneten behaupteten, die Blogger würden "Panik schüren" und "schädliche Gerüchte" befeuern. Ein kommunistischer Ex-General forderte gar ein Verbot von Söldnertruppen und ein "Militärzensur" für Blogger, die "gebändigt" werden müssten. Das kommentierten die so Geschmähten mit dem Hinweis, scheinbar wolle der Kreml von "unerwünschten Themen" ablenken.

"Armee gewinnt Kriege"

Prigoschin-Gegner und Rechtsaußen Igor Strelkow sprach von einer Art Meuterei, die in der Luft liege: "Die Armee gewinnt Kriege. Keine Gruppe bestimmter Abteilungen, keine Söldner, nicht Drohnenabteilungen, sondern die gesamte Armee. Das ist so offensichtlich, dass es dazu grundsätzlich keines weiteren Beweises bedarf. Und es geht nicht darum, ob die Armee gut oder schlecht ist, sondern darum, dass man nur in einem einzigen Organismus mit einheitlichen Standards und Befehlen Ressourcen ansammeln und die Möglichkeit eines Sieges schaffen kann."

"Putin rechnet mit dem Schlimmsten"

Zum ungelösten Konflikt zwischen Schoigu und Prigoschin kommentierte Mark Galeotti im britischen Fachblatt "The Spectator": "Putin weigert sich weiterhin, seinen Job zu machen und den anhaltenden und immer heftiger werdenden Kampf zwischen Wagners Jewgeni Prigoschin und Schoigu und dem regulären Militär beizulegen, der sogar zur Entführung und Misshandlung eines Oberstleutnants führte. In Kombination damit wirft es unweigerlich Fragen auf, nicht nur über Putins Fähigkeit, sein eigenes kannibalistisches System im Griff zu behalten, sondern auch über seine eigenen Erwartungen. Wenn Selenskyj Erfolg erwartet, aber dabei vorsichtig vorgeht, bedeutet das umgekehrt, dass Putin Selbstvertrauen vortäuscht, aber mit dem Schlimmsten rechnet."

Auch die "Washington Post" ist in einer neuen Analyse der Meinung, dass Putins "Risiken" mit der Gegenoffensive der Ukraine enorm gewachsen seien, nicht zuletzt wegen der "Machtkämpfe" in der Truppe: "In der russischen Elite herrscht laut Insidern Nervosität über die Feuerkraft der westlichen Waffen der Ukraine, und sie schürt Befürchtungen, dass die von Moskau geschlagene Landbrücke über den Südosten der Ukraine zur Krim durchtrennt werden könnte – was dem Kreml erhebliche militärische und moralische Rückschläge bescheren würde."

"Sie verstehen Putins Pläne nicht"

"Die Stimmung in der Elite ist sehr düster", wird die russische Politologin Tatjana Stanowaja von dem US-Blatt zitiert: "Sie verstehen Putins Pläne nicht und bezweifeln, dass er mit der Situation angemessen umgeht. Das geht schon lange so, aber die Sorge nimmt zu." Alles, was Prigoschin von sich gebe, sei mit Putin abgesprochen und diene dem "Dampf ablassen", so Stanowaja, aber andere Politologen warnten wiederholt, Putin könne schnell die Kontrolle verlieren. Das gelte insbesondere, wenn die Ukraine nennenswerte militärische Erfolge erzielen sollte. Der Landweg zur Krim sei von immenser Bedeutung: "Jeder versteht, wie wichtig es für Putin ist, und ein Rückschlag würde bedeuten, dass Putin die Situation erneut nicht richtig eingeschätzt und die Situation erneut nicht im Griff hat. Es würde einen sehr schwerwiegenden Misserfolg bedeuten."

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