Mann führt eine Kuh durch das Hochwasser
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Nach dem Dammbruch am Dnjepr

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"Putin verliert die Kontrolle": Russland rätselt über Dammbruch

Der russische Präsident will sich offenbar zur Überflutung weiter Gebiete am Dnjepr nicht äußern. Experten behaupten, alle Beteiligten seien vom geborstenen Damm überrascht worden: Hat ein betrunkener General eigenmächtig den Befehl gegeben?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Nach der Flutkatastrophe am Dnjepr beschuldigten sich natürlich umgehend beide Kriegsparteien gegenseitig, den Damm zerstört zu haben. Doch inzwischen überwiegt selbst bei Propagandisten die Einschätzung, dass der Vorfall unvorhersehbar war und somit wohl nicht absichtlich herbeigeführt wurde, zumindest nicht von den Oberkommandos: "Es stellte sich heraus, dass der Feind ebenso wie unsere Truppen darauf nicht vorbereitet war", schreibt der gewöhnlich gut informierte russische Blogger Igor Strelkow. Einer seiner Kollegen zeigte sich ungehalten darüber, dass die russische Armeeführung die Truppe in "Wasservögel" verwandelt habe, statt ihnen zügig neue Stellungen anzuweisen.

"Versuche, Verantwortung abzuwälzen"

Fest steht, dass sich Putin zunächst nicht öffentlich zu dem Vorfall äußerte, wenngleich sein Sprecher Dmitri Peskow von "vorsätzlicher Sabotage der Ukraine" sprach. Im russischen Staatsfernsehen wurde das heikle Thema schon nach 24 Stunden auf die hinteren Plätze verbannt, was von russischen Exil-Medien als Zeichen dafür gewertet wurde, dass der Kreml die Aufmerksamkeit möglichst schnell von den Vorkommnissen ablenken wolle. Es ist auch bezeichnend, dass der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats und ehemalige Präsident, Dmitri Medwedew, mit keinem Wort auf den Dammbruch reagierte, obwohl er in seinem neuesten Blog wieder mal wortreich die Ukraine beschimpft.

In einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan nannte Putin nach Angaben der Pressestelle des Kremls den Dammbruch angeblich ein "klares Beispiel für Sabotage auf russischem Territorium" und eine "barbarische Aktion" Kiews.

Die "wahrscheinlichste Version des Geschehens" schließe "böswillige Handlungen" einer der Kriegsparteien aus, heißt es im russischen Portal "Kurz gefasst" mit 400.000 Abonnenten. Jedenfalls finde diese Sichtweise in Russland "immer mehr Anhänger". Die "einfachste" Erklärung sei wohl die richtige: "Eine natürliche Ursache erklärt jedoch nicht das Ausmaß der Versuche, die Verantwortung für die katastrophalen Folgen aufeinander abzuwälzen", meinte dazu ein Leser.

"Kurz gefasst" will aus eigenen Quellen erfahren haben, dass der Kreml die Schuldigen wegen "menschlichen Versagens" vor ein Militärgericht stellen will: "Gleichzeitig glaubt Russland nicht, dass die Situation durch seine Schuld entstanden ist. Der Grund sei technischer Natur, ist der Kreml überzeugt."

"Wer hat das getan?"

Die schillerndste Erklärung für den Dammbruch kam von einem Blogger, der sich damit brüstet, gute Verbindungen zum russischen Geheimdienst zu haben und der schon häufiger exotische, aber zutreffende Informationen verbreitete. Demnach herrschte im Kreml unmittelbar nach dem Dammbruch völliges Rätselraten über die genaue Ursache. "Wer hat das getan?" soll Putin seinen innersten Zirkel nach dem Aufwachen gefragt haben, wobei der Präsident erst fünf Stunden verspätet unterrichtet worden sein soll.

Der mächtige Chef des russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, soll für Aufklärung gesorgt haben. Demnach hatten die Russen schon länger Vorkehrungen getroffen, den Damm bei Bedarf sprengen zu können. Es habe jedoch keinen derartigen Befehl gegeben. Vielmehr habe womöglich ein angetrunkener Front-General aus welchen Gründen auch immer eigenmächtig Tatsachen geschaffen, wobei er behaupte, seine Spontanaktion mit dem Generalstab abgesprochen zu haben, was dieser entschieden bestreite. Putin dürfe sich nicht wundern, dass Militärs Eigeninitiative zeigten, wenn er selbst sich nicht mehr um die Details kümmern wolle: "Putin verliert die Kontrolle über das System", fasste der Blogger seine Analyse zusammen.

"Sie vergaßen die Minen im Maschinenraum"

Auch Blogger Sergej Alexaschenko steuerte eine ähnliche Version bei. Nach seinen Informationen sei das russische Militär am Staudamm gewarnt worden, der Wasserdruck nehme zu, was "böse" enden könne. Die Soldaten seien mit der Technik jedoch nicht klargekommen: "Was macht der Kommandant in einer solchen Situation? Natürlich bietet er die einfachste Lösung an – ein Stück des Damms zu sprengen! Allerdings war der bereits geringfügig beschädigt und es musste daher nur noch 'ein kleiner Stoß' versetzt werden. Es ist nicht bekannt, wo sie den Sprengstoff hernahmen und wie sie die Explosion vorbereiteten. Jedenfalls vergaßen sie, dass sich hinter der Mauer ein Maschinenraum befindet, der im Herbst ordentlich vermint wurde. Dann lief alles 'wie am Schnürchen': eine Explosion, eine nachfolgende Detonation im Maschinenraum und statt eines kleinen Abflusses kam es zu einer kolossalen anschließenden Zerstörung des Damms unter dem Druck des Wassers."

"Vielleicht hat Mutter Natur den Damm zerstört"

Vielleicht war es auch nur Unfähigkeit der russischen Besatzungsbehörden, die zum Dammbruch führte, meint Ruslan Lewiew vom unabhängigen russischen "Conflict Intelligence Team": "Der Wasserstand stieg immer weiter an, die Idioten der Besatzungsverwaltung wussten nicht, wie sie das Wasserkraftwerk regulieren sollten, ließen kein Wasser ab, so dass der Damm dem nicht standhielt und brach." Arik Toler vom Recherche-Netzwerk Bellingcat sagte: "Ich bin weit davon entfernt, ein Ingenieur zu sein, aber vielleicht hat Mutter Natur den Damm zerstört und nicht die Ukrainer oder die Russen?"

Auch Journalisten der Washington Post urteilten, ein stark erhöhter Wasserdruck habe den Damm wohl bersten lassen, wobei unklar sei, wer für die vermehrte Wassermenge im Stausee verantwortlich sei. Die einen behaupten, Russland habe "zu wenig Schleusen" offen gehalten, andere mutmaßen, die Ukraine habe einen Damm flussaufwärts geöffnet, um Druck zu machen.

"Am logischsten ist bisher ein spontaner Grund für die Katastrophe, die durch die Hinzufügung einer Reihe ungünstiger Faktoren verursacht wurde – etwa Beschuss, Mangel an verständlicher Wartung und routinemäßiger Überprüfung, Ermüdungsprozesse in einigen kritischen Elementen des Staudamms", so der russische Publizist Anatoli Nesmijan, der normalerweise deutlich nationalistischere Töne anschlägt.

Chaos der Meinungsbildung im Kreml

Es spricht für sich, dass der Kreml außer einer dürren, nach einer Pflichtübung klingenden Propaganda-Parole bisher weiter nichts zur Debatte beitrug. "Wir laufen Gefahr, einige der Positionen zu verlieren, die einfach überschwemmt werden", warnte der russische Kriegskorrespondent Alexander "Sascha" Kots und verwies auch auf eine drohende Wasserknappheit auf der Krim: "Aktive Feindseligkeiten in diesem Bereich sind in naher Zukunft jedenfalls unwahrscheinlich." Kollege Semjon "Wargonzo" Pegow, sonst um keine propagandistische Zuspitzung verlegen, wollte diesmal nicht den "Verschwörungstheoretiker" spielen und zeigte sich ratlos, "was für eine Überraschung das alles" gewesen sei - für das russische Militär wie für die Besatzungs-Behörden.

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow verkündete zunächst unverdrossen, die Ukraine sei für den Dammbruch verantwortlich, wurde jedoch nach eigenen Angaben irre an den widersprüchlichen Begründungen des russischen Generalstabs. Die einen "Patrioten" sagten, die Ukraine habe sich vor einem russischen Angriff schützen, die anderen, sie habe im Gegenteil ihre Ausgangsposition für eine Offensive verbessern wollen. Der Unterschied zwischen den Argumenten sei damit zu erklären, dass es Russen gebe, die auf die Stärke der eigenen Armee setzten und solche, die das eher bezweifelten. Auch das bestätigt indirekt also ein "Chaos" in der Meinungsbildung des Kremls.

Nachträglich schrieb Markow, das Bemühen, einen "technischen Grund" für den Dammbruch zu finden, sei rein politisch motiviert: "Dahinter steht die Hoffnung auf einen Kompromiss mit dem Westen. Sagen wir: Wenn sie uns nicht des Terrorismus beschuldigen, werden wir das umgekehrt auch nicht machen. Der Westen wird aber mit Russland keinen Kompromiss eingehen."

"Schuld muss auf andere geschoben werden"

"Laut dem Ethikkodex der russischen Bürokratie ist es undenkbar zuzugeben, dass etwas schiefläuft und es allen bald schlecht ergehen wird", gab ein Blogger grundsätzlich zu bedenken: "Jeder hat immer alles unter Kontrolle. Und wenn es doch zu einer Katastrophe kommt, muss die Schuld sofort auf andere geschoben werden, sei es auf Ukrainer, Amerikaner, andere Russen oder auf schlechtes Wetter, wie es bereits bei den Frühjahrsbränden in Russland der Fall war."

Unter den russischen Mediennutzern überwiegt die Einschätzung, dass es sich beim Dammbruch um eine militärisch sinnlose Tragödie mit ungeklärter Ursache handelt: "Eines ist klar. Bis zum [Kriegsausbruch vom] 24. Februar 2022 ist sowas nicht passiert. Und die Menschen lebten einträchtig sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Das bedeutet, dass derjenige, der das alles vom Zaun gebrochen hat, die volle Verantwortung trägt." Ein weiterer Leser meinte, der Rückzug wegen einer "Katastrophe" sei "clever erfunden", weil Russland ja bekanntlich nicht verlieren könne. Es wurde auch auf ein lateinisches Sprichwort verwiesen: "Is fecit cui prodest." (Getan hat es derjenige, dem es nützt.)

"Nach uns die Sintflut"

Einheimische hätten ausgesagt, es habe in der fraglichen Nacht keinerlei Beschuss am Staudamm gegeben, gab ein Kommentator zu bedenken. "Nichts davon wäre passiert, wenn nicht ein Geostratege den Karten des 17. Jahrhunderts verhaftet geblieben wäre", hieß es in einem Blog-Eintrag, ein Verweis darauf, dass Putin kürzlich alte Landkarten zur Hand genommen hatte, auf denen es angeblich "keine Ukraine" gab. "Seltsam. Wenn die Ukraine den Damm mit Raketen beschossen hat, warum schwiegen unsere dann? Von Videoaufnahmen sollte das Internet dann brodeln, der Fernseher glühen! Waren sie nur zu schüchtern dafür?" stellte ein Leser die Informationspolitik des Kremls in Frage. Ein anderer seufzte mit einem berühmten Zitat der französischen Mätresse Marquise de Pompadour: "Nach uns die Sintflut."

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