Der Politiker mit einem Mikrofon
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Von den Russen eingesetzter Krim-Chef Sergej Aksjonow

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Rufe nach "Anpassung" der Kriegsziele: Druck auf Putin wächst

Der von den Russen installierte "Ministerpräsident" der Krim, Sergej Aksjonow, hat "keinen Zweifel", dass der Kreml seine Ziele "auf die eine oder andere Weise anpassen" werde. Das sorgt für erhebliches Aufsehen: Naht der Waffenstillstand?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Und noch ein bemerkenswerter Auftritt im russischen Fernsehen: "Die Situation ändert sich täglich, ich denke, dass die Ziele auf die eine oder andere Weise angepasst werden, daran habe ich persönlich keinen Zweifel", sagte Sergej Aksjonow, der Statthalter des Kremls auf der besetzten Halbinsel Krim, zur aktuellen Lage. Wie Putin seine Ziele ändern soll, verschwieg der Politiker. Allerdings gab er einen Hinweis: Sollte die Ukraine nicht, wie eigentlich von Moskau geplant, "entnazifiziert und entmilitarisiert" werden, dann werde sie vermutlich Mitglied von EU und NATO: "Dann wird es für uns schwer werden, mit ihnen noch über irgendetwas zu sprechen, irgendetwas aufzubauen und alles andere." Wo die künftigen Grenzen zwischen Russland und der Ukraine verlaufen werden, wollte Aksjonow nicht näher erläutern: Das sei ein "abwegiges" Thema.

"Ratten verlassen sinkendes Schiff"

Aksjonow bekräftigte, er spreche "regelmäßig" mit Putin persönlich über den weiteren Kurs bei der "Spezialoperation", wie Moskau den Krieg nennt. Womöglich hat der Krim-Politiker höchst regionale Interessen, einen schnellen Waffenstillstand anzuregen: Die Touristensaison droht wegen der Kriegshandlungen abermals auszufallen, das von weither über einen Kanal herbeigeschaffte Trinkwasser für die Krim soll nach russischen Angaben wegen des gesprengten Staudamms am Dnjepr maximal noch "500 Tage" reichen. Es wird spekuliert, dass die Ukraine obendrein für die Russen den Landzugang zur Krim unterbrechen könnte, so dass die Halbinsel auf die bereits einmal attackierte Schwarzmeer-Brücke angewiesen wäre.

Der pensionierte Oberst und "Prawda"-Kolumnist Viktor Litowkin wetterte in Richtung Aksjonow: "Wir werden die Neutralität der Ukraine und ihre Entmilitarisierung nicht erreichen, auch die Denationalisierung werden wir nicht erreichen, wenn wir die polnische Grenze nicht erreichen. Eine Unterbrechung wird uns kaum einen Gefallen tun, sie wird uns eher behindern." Ultrapatrioten wie Igor Strelkow argwöhnten bereits, die "Ratten verließen das sinkende Schiff" und suchten "verzweifelt" nach Fluchtwegen - "allerdings vergeblich". Damit spielte er wohl auf eine Reihe von Äußerungen an.

Der russische Parlamentsabgeordnete Jewgeni Fjodorow von der Putin-Partei "Einiges Russland" hatte in einem Telegram-Interview eingeräumt, es sei "im Prinzip unmöglich", den Krieg zu gewinnen, solange die Ukraine von den USA unterstützt werde: "Mit Hilfe der Lieferungen von Patriot- und anderen Luftverteidigungssystemen haben die Amerikaner unsere nichtnukleare Luftwaffe, die das wichtigste Angriffsinstrument auf Schlachtfeldern ist, vollständig lahmgelegt." Russland könne die ukrainische Infrastruktur somit nicht ernsthaft beschädigen. Im Übrigen nutze der Krieg sowieso den USA deutlich mehr als dem Kreml.

"Dann werden wir es ohne sie lösen"

Bereits in den Tagen zuvor hatte sich abgezeichnet, dass prominente russische Politiker und Propagandisten nach einem schnellen Ausweg aus der verfahrenen Lage suchen: Chefpropagandistin Margarita Simonjan hatte gegen alle Erwartungen im Fernsehen den Friedensplan Indonesiens unterstützt, wonach beide Kriegsparteien jeweils 15 Kilometer abziehen und das Niemandsland UN-Friedenstruppen überlassen sollten. Volksabstimmungen sollten dann über die nationale Zugehörigkeit umstrittener Gebiete entscheiden: Russland brauche keine Territorien, die nicht freiwillig vom Kreml regiert werden wollten. Inzwischen verkündete Simonjan, sie werde an dem Tag ihren Job hinwerfen, an dem "Russland gewonnen" habe, um sich dann "literarischen" Aufgaben zu widmen.

Der Spitzenpolitiker Konstantin Satulin, Mitglied der Parlamentsfraktion der Putin-Partei "Einiges Russland" und stellvertretender Ausschussvorsitzender, hatte bereits am 1. Juni eingeräumt, Putin habe "keines" seiner - ohnehin sehr schemenhaften - Ziele erreicht, es sei an der Zeit, von den ursprünglichen Plänen abzurücken. Die Ukraine werde weiter existieren und "nicht mehr neutral" sein: "Sie wird fortbestehen, das kann ich Ihnen sagen. Sie wird bleiben. Weil wir nicht genug Kraft haben, das angesichts der Unterstützung, die sie [aus dem Westen] erhält, zu ändern. Sie wird fortbestehen."

"Hängt von Sommeroffensive ab"

Umgekehrt hatte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow auf einem Forum gesagt, ein Friedensabkommen sei möglich, wenn Russland seine bisherigen Ziele aufgebe: "Wenn sich die Ziele geändert haben, dann wird die sogenannte ZOPA – Zone der möglichen Verständigung – deutlich, und wenn nicht, dann bleiben sie in der Front, dann werden wir es irgendwie ohne sie lösen."

All diese Äußerungen sorgen für eine angeregte Debatte im russischsprachigen Netz: "Militäranalysten gehen davon aus, dass die Änderung der Ziele von den Ergebnissen der Sommeroffensive abhängen wird", heißt es da. Derzeit sind russische Truppen an der gesamten Front in der "aktiven Verteidigung" und sehen sich einer unbestätigten ukrainische "Offensive" ausgesetzt.

"Es braut sich was zusammen"

"Allein die Tatsache, dass sogar Beamte im Staatsfernsehen über Änderungen bei der Spezialoperation sprachen, zeugt von vielen Dingen, insbesondere davon, dass sich in den Tiefen der Obrigkeit wie im gesamten Land die Forderung zusammenbraut, etwas zu korrigieren, aber möglichst so, dass Änderungen generell nicht wirklich eine neue Richtung einschlagen, sondern Rückenwind und neue Freiräume schaffen", schrieb ein Blogger mit 42.000 Followern. Er erinnerte daran, dass es als "Revisionismus" getadelt worden wäre, wenn jemand solche "Anpassungen" von den sowjetischen Kommunisten verlangt hätte. Jedenfalls sei nicht auszumachen, ob Aksjonow mit seinem Statement die "Latte höher oder niedriger" hängen wollte.

Kreml-Politologe Sergej Markow beeilte sich bereits, die "neuen" Ziele anzudenken: "Entnazifizierung bedeutet nicht die Verleugnung des Existenzrechts der ukrainischen Nation, sondern ein Verbot des Neonazismus in der Ukraine in allen Formen und die Beseitigung des Terrorsystems", behauptete er, womit er de facto Abschied von der Idee nahm, die Ukraine zu annektieren und selbst einen Regimewechsel fraglich erscheinen ließ. Er wollte das jedoch nicht als "Angebot" verstanden wissen.

"Ziele und Vorhaben zwei verschiedene Dinge"

Der stellvertretende Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des russischen Parlaments, Juri Schwytkin, versuchte, sich dem Strom der Äußerungen entgegenzustemmen: "Niemand sollte daran zweifeln, dass die Ziele erreicht werden. Ich stelle fest, dass die Änderung von Aufgaben und Zielen das Vorrecht des Oberbefehlshabers ist. Die ausgerufenen Ziele richten sich nach der aktuellen Lage und den Bedürfnissen der Russen. Allerdings sind Ziele und Vorhaben zwei verschiedene Dinge. Die konkreten Aufgaben können je nach aktueller Situation angepasst werden, die Ziele bleiben jedoch unverändert."

"Gebet nötiger als Ideologie"

Unterdessen behauptete der Politologe Dmitri Oreschkin in einem Gespräch mit der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta Europe", Putin habe die russische Staatlichkeit als solche aufgelöst, was erkläre, warum potentielle Nachfolger sich nicht mehr um Gesetze scherten und jede Zurückhaltung fahren lassen: "Diese Leute sind sich darüber im Klaren, dass alle Paragraphen der Verfassung erstens leicht umgeschrieben werden können und zweitens überhaupt ignoriert werden können, wie es Putin hält. Das bedeutet, dass keiner dieser Charaktere, wenn es um die Gewaltenteilung geht, eine Sekunde darüber nachdenkt, was laut Verfassung möglich ist und was nicht. Aber jeder wird wissen, dass seine politischen Chancen, seine politischen Überlebenschancen davon abhängen, wie viele Maschinenpistolenschützen er hinter sich hat." Am Ende werde die Macht wohl von demjenigen an sich gerissen, der am "unauffälligsten" sei.

Der russische Jurist Grigori Sarbajew machte angesichts der offensichtlichen Sinnkrise im Kreml einen besonders aufschlussreichen, wenngleich nicht umsetzbaren Vorschlag: "In der Bibel wird seit langem die Gesamtheit aller Ideen ausgebreitet, einschließlich des unvermeidlichen Zusammenbruchs falscher Ideologien. Daher ist das stets angebrachte Gebet jetzt wahrscheinlich viel notwendiger und wichtiger als jede Ideologie. Es kann jedoch nicht in die Verfassung aufgenommen werden."

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