Zwei Mädchen posieren in den Nationalfarben
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Feierstimmung zum "Tag der Russen" in Wladiwostok

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"Atmosphäre des Wahnsinns": Russischer Professor will neue DDR

Zum "Tag der Russen" überbieten sich Kremlfans in abstrusen politischen Vorhersagen. Sogar von einer abermaligen Teilung Polens ist die Rede. Mit dessen Ostgebieten könne die DDR wiedererrichtet werden, so der Promi-Politologe Alexej Podbereskin.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der rechtsextremistische Propagandist Igor Strelkow muss etwas geahnt haben: Er wolle niemandem zum "Tag der Befreiung vom gesunden Menschenverstand" gratulieren, schrieb er in seinem Blog. Offiziell wird am 12. Juni der "Tag der Russen" gefeiert, allerdings mit teilweise wirklich "wahnsinnig" anmutenden Forderungen aus den Reihen der Putin-Getreuen. Der Präsident selbst gestand in seiner Festtagsrede, es falle ihm schwer, seine "Gefühle in Worte zu fassen". Er rühmte die "grandiosen Siege" der Vergangenheit und forderte Treue zu den "Traditionen". Ihr Erbe sei den Russen "heilig".

"Putin als Boa Constrictor"

Zum nationalen Überschwang steuerte Professor Alexej Podbereskin vom renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen ein besonders "bemerkenswertes" Interview bei. Er verglich Putin mit einer Würgeschlange, die geruhsam auf ihre Opfer wartet und wollte das ausdrücklich als Kompliment verstanden wissen: "Ich möchte wirklich, auch wütend, aus der Haut fahren und drastische Schritte unternehmen, zum Beispiel in Bezug auf die baltischen Staaten und Polen, aber Putin tut das nicht", so der Politologe der seine Doktorarbeit 1990 über "Die Bedeutung des Befehls- und Kontrollsystems in der US-Militärdoktrin" schrieb. Und weiter: "Ich vergleiche ihn mit einer Boa constrictor. Er nimmt alles hin, und das erfordert enormen Mut, viel mehr, als einer drastischen Tat grünes Licht zu geben. Aber er berechnet und erträgt alles. Ich weiß nicht, was ihn das kostet."

Podbereskin ist natürlich überzeugt, dass Russland den Krieg gewinnt und hat bereits konkrete Vorstellungen, wie er Osteuropa dann aufteilen will, nämlich nach dem Muster des Kalten Kriegs: "Ein Teil des Territoriums gehört Polen völlig unverdient und zu Unrecht. Geben Sie ein Stück an Deutschland zurück, erneuern Sie die ehemalige sowjetische Besatzungszone in Form der DDR. Niemand hat uns damals wirklich gezwungen, sie aufzulösen. Es war Gorbatschows Dummheit. Ich muss sagen, dass er ein Verbrecher war, wir haben einen Fehler gemacht und wollten alles zurückgeben. Wir werden die sowjetische Besatzungszone in Form der Deutschen Demokratischen Republik wiederherstellen und dort Wahlen abhalten."

"Revolutionär mit Panamahut"

Auf Vorhaltungen des Interviewers, Russland fehle dafür wohl die militärische Potenz, erinnerte Podbereskin, ein ehemaliger Kommunist, an den Zweiten Weltkrieg: "Wenn wir nach der Zahl der Menschen und der Wirtschaftskraft geurteilt hätten, hätten wir den Zweiten Weltkrieg verlieren müssen. Deutschland und seine Verbündeten waren viel mächtiger als wir." Russische Truppen seien einst bis Paris vorgedrungen und hätten "ein paar Mal" Berlin erobert - eine Anspielung auf 1812 und 1945. Nach Paris müssten die Soldaten diesmal nicht mehr unbedingt kommen, aber "auf jeden Fall nach Berlin". Und noch eine Empfehlung hatte der Politologe mit Blick auf die vielen russischen Künstler, die das Land wegen Putins Angriffskrieg verlassen haben: Schon im Mittelalter sei fahrendes Volk nicht zu den "ehrlichen Berufen" gezählt und deshalb außerhalb der christlichen Friedhöfe bestattet worden: "Wir sollten wieder so handeln."

Kommentatoren schmähten Podbereskin als "Revolutionär mit Panamahut", der an seine eigene "Göttlichkeit" glaube. Andere fragten ihn bang: "Wollen Sie wirklich nach Berlin?" Und ein Leser brachte es auf den Punkt: "Die Atmosphäre des Wahnsinns und des Obskurantismus hat sich in Russland so verdichtet, dass sie zum Schneiden ist." Es gab auch jemand, der sich fragte, ob es sich noch lohne, das angesehene Moskauer Institut zu besuchen, wenn es dort solche Professoren gebe.

Womöglich hat sich Podbereskin bei seiner DDR-Fantasie am tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow orientiert, der ebenfalls ankündigte, seine Truppe könne ohne Weiteres Polen, Frankreich und Deutschland einnehmen, und so werde es auch kommen, wenn diese Länder nicht einlenkten: "Unsere Kämpfer räumen auf, wohin sie auch geschickt werden."

"Berge erheben sich"

Allerdings erhofft sich auch Sergej Karaganow, promovierter Historiker an der Moskauer Wirtschaftshochschule, in einem aktuellen Interview ungeachtet der militärischen Rückschläge eine moskaufreundliche Neuordnung Europas: "Vielleicht werden sich einige Länder um die Vereinigten Staaten von Amerika scharen, obwohl ich sicher bin, dass sich in zehn Jahren Teile des zerfallenden Europas auch nach Osten orientieren werden. Das zeigt sich bereits am Beispiel Ungarns, am Beispiel vieler politischer und wirtschaftlicher Trends in Europa. Das ist erst der Anfang."

Karaganow ist der Meinung, dass Russland das "alte Europa" repräsentiert, während große Teile des restlichen Kontinents dessen traditionelle Werte verraten hätten: "Wir befinden uns im Zustand des erschütterndsten und am stärksten zunehmenden globalen Erdbebens. Es ist unangenehm, aber nach einem Erdbeben tauchen neue Kontinente, Länder, neue Phänomene auf, Berge erheben sich, es bilden sich Schluchten. So entsteht eine neue Welt." Damit meint Karaganow allerdings offenbar die alte Welt des Warschauer Pakts.

"Es ist eine Schande"

"Am Tag Russlands ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass unsere Aufgabe nicht nur darin besteht, Russland zu verteidigen, sondern es auch groß zu machen", tönt das Propaganda-Portal "Readovka" und feiert ausländische Gäste, deren "Traum" es angeblich schon immer war, Moskau zu besuchen. Liebesgrüße kamen per Glückwünsch-Telegramm auch aus Nordkorea. Die Netzgemeinde war weniger frohgemut: Blogger fühlten sich an ein "Fest während der Pest" erinnert: "Im Moment handelt es sich nicht um Russland, sondern um ein undeutliches System einer Gruppe von Menschen. Es ist eine Schande." Putin habe "Spaß" verordnet, war zu lesen: "Zumindest gibt es kein Feuerwerk."

"Vergangenheit ist eine Lüge"

Politologe Ilja Graschenkow gab zu bedenken, der Kreml feiere den "Tag der Russen" in diesem Jahr bei näherem Besehen ohne "triftige Gründe": "Die Vergangenheit ist eine Lüge, die Zukunft liegt im Nebel." Im Übrigen leide Russland nach wie vor unter Orientierungsproblemen, was Europa betreffe: "Vom Westen verfemt, suchte das Land sein Heil im Osten, wurde aber auch dort nicht akzeptiert. Wir stecken irgendwo dazwischen fest. Dieser neue Konflikt wurde zum Anlass für unseren Existenzkampf als eine Art Widerstandsgeste gegen 'ihre Werte', ohne vollständig zu verstehen, was unsere Werte eigentlich sind."

Zu den fiebrigen Träumen von einer neuen, moskaugesteuerten DDR und einer Umwälzung Europas unter Putins Führung passte allerdings nicht die neueste Äußerung des russischen Parlamentsabgeordneten Konstantin Satulin, der bereits vor einigen Tagen mit Skepsis aufgefallen war und sich nicht vorstellen konnte, dass die Ukraine als Staat verschwindet. Jetzt sagte er freimütig, viele Menschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion kämpften "auf der falsche Seite": "Leider passiert das, natürlich ohne das Zutun der jeweiligen Regierungen." Die Eliten in diesen Ländern seien "antirussisch" gestimmt: "Je mehr wir die Operation in die Länge ziehen und unsere Siege in die Zukunft verschieben, desto mehr kommen sie auf den Geschmack. Wir müssen uns darum kümmern."

Patriarch: "Pazifismus ist Ketzerei"

Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, hatte Putin zum "Tag der Russen" gute Laune gewünscht und in einer Ansprache kürzlich gesagt: "Was heute in Russland passiert, ist ein einzigartiges Phänomen. Im Westen werden Kirchengebäude geschlossen, im besten Fall werden sie Muslimen überlassen, im schlimmsten Fall werden darin Restaurants, Cafés, Tanzflächen usw. eingerichtet. Und das in den Ländern, die auf uns herabblicken und versuchen, uns etwas beizubringen! Und wenn wir nicht davon lernen, sind sie beinahe bereit, gegen uns in den Krieg zu ziehen, so dass wir mit Sicherheit genauso werden wie sie."

Für Verblüffung sorgte in Russland die Meldung, wonach der Pazifismus als "Ketzerei" unvereinbar sei mit der Lehre der Moskauer Kirchenleitung. Er untergrabe das "Vertrauen der Gläubigen" und schade der Einheit der Kirche.

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