Der russische Präsident am Schreibtisch
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Muss sich Sorgen machen: Wladimir Putin

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"Mit ihm stimmt was nicht": Lässt russische Elite Putin fallen?

Immer freizügiger kritisieren Russlands Medien den Präsidenten. Nicht nur US-Medien leiten daraus ab, dass Putins Position wankt: "Sogar viele, die immer noch die Niederlage der Ukraine wollen, sehen im Waffenstillstand den besten Ausweg."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Gemessen an der Dynamik der Ereignisse und der wachsenden Freizügigkeit von Äußerungen, auch in den offiziellen Medien, blicken die Eliten nicht mehr auf Putin als nächstem Präsidenten des Landes", schreibt der russische Blogger Andrej Proschakow, der zwar selbst nur unbedeutende 3.000 Follower hat, mit seiner Äußerung allerdings in den ganz großen Telegram-Kanälen zitiert wurde. Seine Beobachtung kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich wird in den letzten Tagen mit ungewöhnlicher Offenheit über Putins Zukunft debattiert, auch in den Medien, die vom Kreml gesteuert sind.

"Schwierig, einen Kompromiss herzustellen"

Kürzlich sollen sich russische TV-Bosse beim stellvertretenden Stabschef der Präsidialverwaltung Alexej Gromow beschwert haben, weil sie nur noch stark verzögert erfahren, welche Ansichten der Kreml jeweils zur aktuellen Entwicklung habe. Gromow soll geseufzt haben: "Es ist schwierig, einen Kompromiss zwischen den Abteilungen herzustellen. Darüber hinaus gibt es mehrere Informationszentren, mit denen man nur schwer zurechtkommt." Manchmal könne er sich mit Putin persönlich beraten, so Gromow, er verlasse sich ansonsten auf eigene Drähte zum Verteidigungsministerium. Die maßgeblichen Innenpolitiker nutzten andere Kommunikationsstränge.

Das passt zum Eindruck russischer Medien, wonach an der Spitze das pure Chaos herrscht: "Das Fehlen einer kohärenten Reaktion des Kremls auf das Geschehen verrät zumindest seine Bestürzung und Verwirrung. Sie wissen nicht, was sie tun oder sagen sollen. Deshalb schweigt das Verteidigungsministerium entweder oder berichtet ausschließlich über Erfolge", hatte Kolumnist Alexej Moschkow für "VNNews" geschrieben.

"Brauchen wir diese Territorien?"

Aufsehen erregte auch ein TV-Auftritt der Chefredakteurin des Propaganda-Senders RT, Margarita Simonjan, die zur Überraschung aller den Friedensplan von Indonesien unterstützte, wonach sich beide Kriegsparteien 15 Kilometer zurückziehen sollen, um einer UN-Friedenstruppe Platz zu machen. In allen umstrittenen Gebieten sollen danach Volksabstimmungen über die künftige nationale Zugehörigkeit abgehalten werden: "Ich habe das ganze Jahr darüber gesprochen, wie wunderbar es wäre, das Blutvergießen jetzt zu stoppen. Alle sollten bleiben, wo sie gerade sind, den Konflikt einfrieren und abermalige Referenden abhalten, wie Indonesien es vorgeschlagen hat", so Simonjan.

Sie fügte an: "Die Menschen sollen bleiben, bei wem sie wollen. Das ist doch fair, oder? Brauchen wir Territorien, die nicht mit uns leben wollen? Ich bin mir diesbezüglich nicht sicher. Und aus irgendeinem Grund scheint es mir, dass der Präsident sie auch nicht braucht. Es wäre toll, aber es gibt einen Haken: Darauf werden sie sich nie einigen." Das sind fürwahr höchst ungewöhnliche Äußerungen aus dem Munde einer der wichtigsten Propagandistinnen. Entsprechend harsch wurde Simonjan aus dem nationalistischen Lager kritisiert. Von "blutigem Verrat" war da die Rede, manch einer argwöhnte, der Kreml beginne, "vorzufühlen". Das rechtsextremistische Portal "Tsargrad" vermutete, dass Simonjan bereits ihren "Chef gewechselt" habe.

"Himmlische Wesen, die selten kommunizieren"

Der russische Politologe Kirill Rogow verwies darauf, dass Putins Verteidigungsminister seit längerem von allen Seiten übel beschimpft werde, und zwar ungestraft, was beweise, dass mit Putin "etwas nicht stimme": "All das geschieht vor dem Hintergrund anderer Kuriositäten im Verhalten Putins. Der Präsident hat sich in letzter Zeit im wörtlichen und übertragenen Sinne von den Menschen distanziert. Während der Covid-Zeit waren er und seine Gesprächspartner durch lange Tische getrennt, und jetzt äußert sich das Staatsoberhaupt fast nicht mehr zu aktuellen Themen, die das Land beunruhigen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Krankheit oder ein psychologisches Problem. Alternde eigenmächtige Führungskräfte präsentieren sich als himmlische Wesen, die selten mit ihren Untertanen kommunizieren und selten öffentlich reagieren."

"Jeden gegen Jeden"

Blogger Sergej Rusow schreibt in einer längeren Analyse: "Der Konflikt zwischen den 'Kremltürmen' um das Leben nach Putin ist bis zum Äußersten eskaliert, es kommt zu einem unverhüllten Zusammenbruch des einheitlichen Systems der politischen und militärischen Kontrolle, das nun nicht mehr auf dem üblichen russischen System der Ein-Mann-Kommandoführung des Staatsoberhauptes basiert, sondern nach dem Prinzip 'Jeder gegen Jeden'." Die "öffentliche Empörung über die Untätigkeit der russischen Behörden und des Präsidenten der Russischen Föderation persönlich" schade dem einzigen stabilisierenden Faktor Russlands, nämlich dem Ansehen der Armee.

Unfreiwillig beschrieb der kremlnahe Politologe Sergej Markow, wie erschüttert die Stellung Putins bereits ist. Der russische Präsident hat angeblich keine Pläne, das Überschwemmungsgebiet am Dnjepr zu besuchen, während sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj dort die Rettungsarbeiten inspizierte. Dazu schrieb Markow: "Terroristen der Geheimdienste der Ukraine, der USA und Großbritanniens machen Jagd auf Putin. Denn Putin ist der Anführer Russlands, der sich mit ihnen im Krieg befindet. Sie glauben, dass die Eliminierung Putins Russland in eine Krise stürzen und Russland zur Kapitulation vor dem Westen zwingen wird. Diese Chance sollte ihnen nicht gegeben werden." Putin sei deshalb in Moskau am "richtigen" Platz. Mit anderen Worten: Markow glaubt, dass dessen Bewegungsspielraum aus Sicherheitsgründen stark eingeschränkt ist.

"Sie haben den Krieg satt"

Unterdessen will das US-Nachrichtenportal Bloomberg mit sieben kundigen Personen gesprochen haben, die übereinstimmend berichteten, dass die russische Elite mit Putin massiv hadert: "Sie haben den Krieg satt und wollen, dass er so schnell wie möglich endet, aber sie bezweifeln, dass Wladimir Putin sich dafür einsetzen wird." Es gehe nur noch darum, "ohne Demütigung" aus dem Krieg herauszukommen. Angst und Pessimismus nähmen zu.

Das Vertrauen in den Präsidenten sei dahin, weil sie daran zweifelten, dass er die Kraft habe, einen Waffenstillstand auf den Weg zu bringen: "Sogar viele, die immer noch die Niederlage der Ukraine wollen, sehen in einem Einfrieren des Konflikts den besten Ausweg aus der Situation. Dazu wären später in diesem Jahr Verhandlungen erforderlich, die es Putin ermöglichen würden, einen Pyrrhussieg zu verkünden, indem er einige der eroberten Gebiete für Russland behält." Der Nationalist Konstantin Malofejew gab gegenüber Bloomberg offen und namentlich zu, dass "eine große Zahl" der Elite "in Wirklichkeit" gegen den Krieg sei.

"Das ist der größte Stolperstein"

"Putin sagt nicht direkt, was er mit der 'Sonderoperation' erreichen will, erinnert aber ständig daran, dass die 'annektierten' Gebiete bei Russland bleiben sollen, und Selenskyj fordert umgekehrt die Rückkehr zu den Grenzen von 1991. Das ist der größte Stolperstein. Für Putin wird es profitabler sein, die Präsidentschaftswahlen [2024] abzusagen, als etwas herauszugeben, was in fast zwei Jahren 'Sonderoperation' mit Mühe erreicht werden konnte", urteilt ein russischer Blogger skeptisch.

Das russische Wirtschaftsblatt "Kommersant" berichtete, Putin wollte erst Ende des Jahres seinen "Direkten Draht" abhalten, eine alljährliche Fernsehsendung, in der ihm Bürger Fragen stellen können. Sie war im vergangenen Jahr ohne weitere Begründung ausgefallen. Eine Quelle von "Kommersant" sagte, es müsse erst "Gewissheit über die Lage an der Front" geben, was russische Blogger so interpretierten, dass es wohl eher um Gewissheit über Putins Zukunft gehe. "Mit solchen Planungshorizonten unter den Bedingungen der Spezialoperation zu leben, ist eine Utopie, die einer Verhöhnung der Erwartungen der normalen Menschen gleichkommt", schimpfte Unternehmensberater und PR-Profi Dmitri Fedechkin.

"Putins Mitarbeiter werden ihn stürzen"

Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski sagte gegenüber dem russischsprachigen Exil-Portal "Istories", Putin setze seine Hoffnungen wohl noch auf internationale Vermittlungsversuche, sogar auf US-Präsident Joe Biden, der keine totale Niederlage Russlands wolle. Eine demokratische Revolution werde es in Moskau nicht geben: "Ich glaube, dass Wladimir Putins Mitarbeiter ihn stürzen werden. Das ist das wahrscheinlichste Szenario. Wir wissen jedenfalls nicht, wie und wann Wladimir Wladimirowitsch Putin die Macht abgeben wird." Es werde eine "kollegiale Führung" wie unmittelbar nach dem Tod Stalins geben: "Natürlich könnte sich dann herausstellen, dass die engsten Vertrauten von Wladimir Putin, wenn sie an die Macht kommen, in ihren Ansichten überhaupt nicht putinistisch sind, da sie nicht mehr durch den Hauptbegrenzer – Putin selbst – gebremst werden."

"Verschmelzung von Führer und Masse"

Der russisch-amerikanische Schriftsteller Michail Epstein vertrat dagegen die These, Putin habe immer noch einen festen Stand bei der einfachen Bevölkerung: "Ich denke, dass Putin gut im Einklang mit einigen der unterschwelligen, unbewussten Nervenzustände seines Volkes steht und diese Befindlichkeiten verstärkt. Es ist wie die Geschichte bei Thomas Mann und seinem Roman 'Mario und der Zauberer' [von 1930]. Dort gerät dieser völlig dämonische Zauberer in einen Zustand der Ekstase, wenn er mit dem Publikum verschmilzt. Und Thomas Mann schreibt, es sei unmöglich zu sagen, wer wen anführte – das Publikum den Zauberer oder umgekehrt. Das ist sozusagen der Zustand der Verschmelzung von Führer und Masse."

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