Man sieht eine Theaterbühne, auf der geprobt wird.
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Ratlos auf der Bühne - eine Schauspielklasse des Theaters Les Amandiers in den achtziger Jahren

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"Du tust mir weh": Der französische Theaterfilm "Forever Young"

Das Theater "Les Amandiers" in Nanterre bei Paris gilt als eine der aufregendsten Spielstätten für avantgardistisches Schauspiel in Europa. Nun kommt ein Film in die Kinos, den eine Besucherin der Schauspielschule gedreht hat: Valeria Bruni Tedeschi.

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Man ist gleich mittendrin in diesem fiebernden Drama: "Du hast mich fest umarmt. Du hast gemurmelt, dass Du mich liebst", sagt eine Frau. Und der Mann: "Du warst betrunken." Und sie: "Nein, ich war nicht betrunken." Die Leinwand bleibt noch dunkel während dieser Worte. Dann sieht man eine junge Frau auf dem Boden liegen, Nahaufnahme ihres Gesichtes, ihren Hals umfasst die rechte Hand eines Mannes, als wolle er sie würgen: "Du tust mir weh", sagt sie – und er: "Wenn ich etwas fester zudrücke, kann sich niemand mehr an diese Nacht erinnern."

Acht Menschen, sieben Männer und eine Frau, schauen dieser Szene zu. In einer Reihe sitzen sie an einem langen Tisch, rauchen Kette und sollen nun beurteilen, wer in die berühmte Schauspielschule am Theater Les Amandiers aufgenommen wird. Vielen Dank, sagt der Leiter, vielen Dank – aber die Szene will nicht enden. Die junge Frau entblößt noch ihre Brüste. Einer der Juroren fragt schließlich: "Sind Sie der Meinung, man müsse Exhibitionistin sein, um Schauspielerin zu werden?"

Warum werden Menschen zu Schauspielern?

Die Grenzen zwischen Spiel und Leben lotet dieser Film aus. Von Beginn an überzeugt er mit seiner Energie, diesem Alles-oder-Nichts junger Menschen, die große Texte sprechen wollen, sich selbst verlieren in Worten und wiederfinden, die das Theater mit jeder Faser ihrer Körper leben, mit einer Unbedingtheit, die beeindruckt, aber auch mal nerven kann. Normalität gibt es nicht, alles ist Drama oder betonte Ausgelassenheit. Hinter jeder Geste und jeder Bewegung versteckt sich ein Lebenszweifel, die übermäßige Sucht nach Anerkennung, nach Liebe, nach Aufmerksamkeit, nach Bestätigung – all das, was gerne mit der schauspielerischen déformation professionnelle beschrieben wird, dieser Gabe oder diesem Fluch, alles theatralisch zu überspannen, den Alltag und den Beruf. Immer auf der Überholspur, kurz vor dem Crash, ein Leben der Entäußerung, der Exzesse, kurz: des ständigen Negierens der Schranken zwischen Kunst und Leben.

Der Körper als Instrument und Ausdrucksmittel

Zwölf Schüler werden an der Theaterschule aufgenommen, unter ihnen ehedem auch Valeria Bruni Tedeschi, die Regisseurin von "Forever Young", die ihrer eigenen Lehrzeit am Theater Les Amandiers in den achtziger Jahren nachspürt. Nadia Tereszkiewicz spielt ihr Alter Ego. Die Ausbildung beinhaltet auch einen Trip nach New York, ins berühmte The Actors Studio.

Reich an Gefühlen und Beobachtungen ist dieser Film – die Intimität und Spontaneität der Handkamera schaffen einen emotionalen Strudel. Neben einer tragischen Liebesgeschichte, die zwischen zwei jungen Menschen beginnt, steht das Ensemble im Vordergrund, ein Lebensgefühl, die Hingabe ans Schauspiel, die Ausbeutung der eigenen, auch ganz privaten Zustände.

Entgrenzung, Leidenschaft, Grenzüberschreitung

Eine Achterbahn der Sinne – alles dabei von Rauschmitteln über Freizügigkeit bis zu hierarchischen Abhängigkeiten. Gezeigt werden auch sexuelle Übergriffe, allerdings eher beiläufig – wozu in der Realität passen mag, dass kurz nach dem französischen Kinostart bekannt wurde, dass gegen den Schauspieler Sofiane Bennacer, der in "Forever Young" einen Borderline-Charakter spielt, von vier Frauen Vorwürfe wegen sexueller Gewalt erhoben wurden. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen – Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi verteidigt ihren Hauptdarsteller, mit dem sie freilich inzwischen selbst eine Beziehung hat. So spiegelt sich das Leben in diesem sehenswerten Drama, das vor allem durch die Unmittelbarkeit seiner Inszenierung überzeugt, durch den Elan seiner großartigen jungen Darsteller und die episodenhafte Schilderung der Doppelbödigkeit des Lebens.

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