Protestierer vor dem Regierungsgebäude in der armenischen Hauptstadt
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Gerangel in Eriwan: Aufgebrachte Armenier

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"Neue große Kopfschmerzen": So blamiert sich Putin im Kaukasus

Eigentlich verstand sich Russland als Schutzmacht Armeniens, griff jedoch nicht ein, als Aserbaidschan dort militärisch neue Tatsachen schuf. Das nagt am Selbstbewusstsein von Putins Propagandisten: "Milde ausgedrückt, ist das ein Misserfolg."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Russland schuldet niemandem etwas", blaffte die Chefredakteurin des Propagandasenders "RT", Margarita Simonjan, in ihrem Telegramm-Blog und meinte damit Armenien, das bisher zu den Schutzbefohlenen von Moskau gehört, jetzt jedoch in der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan im Stich gelassen wurde. Grund dafür ist wohl, dass sich Putin derzeit neben dem Ukraine-Krieg keine weiteren militärischen Abenteuer leisten kann, schon gar nicht, um Verbündete zu stärken.

Im Übrigen liebäugelt Armenien schon länger mit "Ersatzvätern" wie Frankreich und den USA. Kein Wunder, dass die aus Armenien stammende Simonjan schimpfte, ihr Heimatland sei ein "Judas ohne Herz, ohne Ehre, ohne Wurzeln" und habe seine eigenen "Heiligtümer" verraten. Der dortige Premierminister Nikol Paschinjan sei eine Art "armenischer Nawalny" (der in Haft sitzende prominenteste russische Oppositionspolitiker): "Soll er doch die NATO bitten, ihm zu helfen."

"Niemand nimmt Rücksicht auf die Schwachen"

Das wüste Geschimpfe kann allerdings nicht den tiefen Frust überdecken, den Putins Gefolgsleute wegen der außenpolitischen Blamage empfinden. TV-Korrespondent Alexander Sladkow schrieb: "Wenn wir über unsere Diplomatie in dieser [Kaukasus]-Region sprechen: Um es milde auszudrücken, ist das ein Misserfolg." Der Angriff Aserbaidschans auf das Gebiet Berg-Karabach, wo ethnische Armenier leben, die inzwischen "kapituliert" haben sollen, sei ein "Dolch im Rücken Russlands", bedauert Sladkow: "Wir müssen stark sein. Niemand nimmt Rücksicht auf die Schwachen. Aber aus irgendeinem Grund werden wir als schwach eingestuft." Damit spielt Sladkow darauf an, dass in der umstrittenen, offiziell zu Aserbaidschan gehörenden Region russische "Friedenstruppen" stationiert sind, die durch Passivität auffielen.

"Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass uns niemand mochte und uns nun im Südkaukasus neue große Kopfschmerzen bereitet", vermutete Blogger Roman Saponkow. Eine Umschreibung dafür, dass Putin in dem Gebiet nichts mehr zu melden hat: Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, Armenien wirbt wie erwähnt um den Westen.

"Putins Phantom-Imperium zerfällt"

Publizist Anatoli Nesmijan (110.000 Fans) bezeichnete die russische Armee als "klapprig". Sie sei definitiv nicht in der Lage, an zwei Fronten zu kämpfen: "Was können wir über sie sagen, die von mehreren Generationen herausragender Militärführer ausgesaugt, ausgeraubt und gemolken wurde und die dem Oberbefehlshaber regelmäßig Unsinn in die Ohren bläst, wonach 80 Prozent unserer neuesten Waffen konkurrenzlos seien? Und trotzdem ließen sie mitunter stotternde und rülpsende Fahrzeuge in den Paraden mit rollen."

Direkte Folge der militärischen Schwäche des Kremls sei der Zerfall des russischen "Phantom-Imperiums" von den Rändern her, ganz "nach dem Lehrbuch". So träfen sich fünf zentralasiatische Ex-Sowjetrepubliken in New York mit den USA, um ihre Zusammenarbeit zu intensivieren: "Die Region versucht, schnell aus der russischen Einflusszone herauszukommen und gleichzeitig nicht unter die Kontrolle einer gewissen anderen Person zu geraten. Alle zentralasiatischen Länder kooperieren mit China, versuchen jedoch, diese Zusammenarbeit auszugleichen. Sie haben bereits die Erfahrung völliger Unterordnung unter Russland gemacht und sehen keinen Sinn darin, dies zu wiederholen." Russland sei mittlerweile so "toxisch", dass Nachbarstaaten nicht nur Allianzen aufkündigten, sondern nicht mal mehr Kontakte suchten: "Es gibt viele Probleme, praktisch keine Vorteile."

"Fähigkeit, mit allen in Konflikt zu geraten"

Polit-Blogger Andrej Medwedew glaubt, dass die "Tragödie" gerade erst beginne. Die Russen könnten nun mal "keine größeren Patrioten als die Armenier selbst sein". Leider habe Russland in Armenien "an Einfluss verloren", das werde "irgendwie intern zu besprechen" sein. Das Russland, das im 19. Jahrhundert die Gegend vom damaligen Persien erobert habe, gebe es nicht mehr: "Damals trug Russland noch die volle Verantwortung für seine neue Provinz. Aber diese Provinz ist unabhängig geworden." Im Übrigen seien die Armenier unglaubwürdig, wenn sie den Krieg in der Ukraine verurteilten, aber gleichzeitig verlangten, Putin müsse ihnen militärisch helfen: "Der eine Krieg ist furchtbar, der andere soll großartig sein? Nun ja!"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow fragte sich frustriert, warum die vielen aus Armenien stammenden Russen so wenig Einfluss hätten. Das sei für ihn ein "großes Rätsel": "An der Spitze Armeniens steht ein prowestlicher, antirussischer Paschinjan! Warum?" Auf das russische Außenministerium zielend meinte Markow: "Dort haben sie die Fähigkeit, mit beiden Ländern gleichzeitig zu streiten, Aserbaidschan und Armenien. Wollen wir das wirklich? Aber das ist natürlich eine profane Frage. Tatsächlich liegt die Größe Russlands offenbar in der Fähigkeit, mit allen in Konflikt zu geraten."

"So hat es der Herr befohlen"

Einer der populären russischen Blogger zog das Fazit, dass sein Land nicht mehr schultern solle, als es in der Lage sei, auf sich zu nehmen: "Wenn man in der modernen Welt auf zwei Stühlen sitzt, besteht die Gefahr, dass man von beiden Stühlen fällt." Das bezog sich auf Armenien, ließ sich aber genauso gut auf Putin münzen.

Hämisch kommentiert wurde ein Zitat des Kreml-Pressesprechers Dmitri Peskow, der das Ganze "rein rechtlich" als innere Angelegenheit Aserbaidschans interpretierte: Jetzt sei spannend, wie er juristisch den Angriffskrieg auf die Ukraine einordnen werde. Dazu hieß es in einem russischen Blog: "Das Problem des Kremls war schon immer das Fehlen eines einheitlichen Vorgehens. Ein solcher Opportunismus in der jeweiligen Situation bringt Russland ständig in eine dumme Lage – und das Kriterium 'was für den einen gilt, gilt für den anderen noch lange nicht' spricht eher für die Wetterfahne der Politik als für ihre Komplexität."

Für Verwirrung hatte der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew (1,1 Millionen Fans) gesorgt, der in einem wüsten Blog-Eintrag schimpfte, Armenien habe mit der NATO "geflirtet" und Russlands Feinden "Kekse angeboten": "Ratet mal, welches Schicksal sie erwartet …" Weil diese bedrohliche Botschaft ganz schlecht ankam, korrigierte ein "Assistent" des unter Alkoholismus-Verdacht stehenden Politikers in dessen Namen: "Russland war und ist der Garant für die Existenz Armeniens als Staat und der Armenier als Nation. So hat es der Herr befohlen."

"Wie weit ist es mit uns gekommen?""

Letztlich sei die Entwicklung ein Indiz für den "Rückzug Russlands aus dem Südkaukasus", urteilte ein russischer Blogger bitter und verwies darauf, dass angeblich viele Aserbaidschaner auf Seiten der Ukraine kämpften, aber kaum ein Armenier. Mit anderen Worten: Putin strafe die Falschen ab. Andere fürchteten, dass sich umstrittene, bisher noch von Russland besetzte bzw. "geschützte" Regionen wie Abchasien, Südossetien und Transnistrien jetzt fragen würden, wie verlässlich ihr Schutzschirm eigentlich noch sei: "Wann geht es dort los?" Rustikale Ratschläge gab es auch: das Wichtigste sei für den Kreml jetzt, "den Hintern zusammenzukneifen".

Russische Leser seufzten: "Wie weit ist es mit uns gekommen? Manche Länder lassen uns nicht mehr rein, nehmen uns die Autos weg, andere vertreiben uns [bezieht sich auf Lettland]. Wir sind nirgendwo mehr glücklich und leben in Angst. Aber wie unser Außenministerium sagte, wir werden das alles weiter beobachten." Andere stöhnten, russische Kreuzfahrtpassagiere würden in Georgien beschimpft, in Armenien fluchten sie auf Putin und belagerten die dortige russische Botschaft: "Wie konnte das alles geschehen?" Auch ein russisches Sprichwort wurde bemüht: "Wie man bei uns im Dorf sagt, Kolja ist mein Freund, aber nur bis zum ersten Polizisten."

"Brauchen unsere Kämpfer woanders nötiger"

Es könnte sein, dass Russland "zugeben müsse, seine Kämpfer derzeit woanders nötiger zu brauchen", hieß es von russischen Beobachtern. Seine Illusionen hätten Russland "bereits auf ein kritisches Niveau diplomatischer Fehler" bugsiert. Es spricht für sich, dass staatlich gesteuerte russische Medien, vor allem die TV-Sender, den Konflikt so weit möglich ignorieren. Für den Kreml ist es eindeutig ein "Verliererthema".

Was bleibt, ist Spott: Blogger verweisen genüsslich darauf, dass die armenische Regierung umgerechnet rund sechs Millionen US-Dollar ausgegeben haben soll, um am kommenden Samstag ein Konzert des US-Rappers Snoop Dogg vor schätzungsweise 25.000 Zuschauern in Eriwan zu ermöglichen. Ob es bei dem Auftritt angesichts der Spannungen bleibt, sei dahin gestellt.

"Ältere müssen ihr Leben in kleine Koffer packen"

Ektarina Winokurowa, Kolumnistin bei "Russland kurzgefasst" (500.000 Follower) nahm sich die Freiheit, jenseits aller politischen Probleme den Konflikt rein menschlich zu betrachten: "Ich möchte eine Welt sehen, in der es egal ist, was jemand vor dreihundert Jahren mit jemand anderem zu schaffen hatte. Worauf es ankommt, ist das Hier und Jetzt. Wir haben jetzt eine Welt, in der ältere Menschen ihr Leben in kleine Koffer packen müssen. Wo sie sich entscheiden müssen: die Katze oder den Mantel. Ein zusätzliches Fotoalbum oder Omas Kiste. Kinderspielzeug oder das Hochzeitskleid der Mutter. Ich verstehe nicht, wie man überhaupt über etwas anderes reden kann."

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