Eingestürztes Dach im Hauptgebäude
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Zerstörtes Hauptquartier der Schwarzmeerflotte

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Russen "beschämt": Hauptquartier der Schwarzmeerflotte zerstört

Aufruhr unter Putins Patrioten, weil die Ukraine die russische Flottenzentrale auf der Krim angriff. Das wird als symbolträchtige Blamage gewertet: "Dafür fehlen uns die Worte." Putin gerät unter Druck, weil er weitere Demütigungen zuließ.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Unsere Militärverwaltung muss dringend geölt werden", schimpften die "Zwei Majore", russische Blogger mit rund 440.000 Fans und zeigten sich erschüttert, dass Russland jetzt die "Früchte" seines Versagens ernte. Eine mutmaßlich ukrainische Rakete hatte das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in der Altstadt von Sewastopol auf der Krim getroffen und nach russischen Angaben "erheblich beschädigt", was allgemein als "beschämend" empfunden wurde. Nur Minuten nach dem Vorfall wurden Videos und Fotos "aus allen Perspektiven" im Netz verbreitet, was die Wut der Ultrapatrioten steigerte. Die "Zwei Majore" behaupten, dass die Ukraine ihre Projektile von einem Flugplatz aus verschossen hatte, auf dem kurz zuvor eine Transportmaschine gelandet war. Die russischen Behörden seien davon zwar informiert gewesen: "Aber es gab keinerlei Reaktion."

"Ukraine-Konflikt in einer neuen Phase"

Dafür ging in russischen Blogs die Mär um, der Angriff sei von ukrainischen Agenten in Sewastopol im "guten" Sinne koordiniert worden: "Der Aufprall und die Explosion erfolgten zu einem Zeitpunkt, als im alten Gebäude eine minimale Anzahl von Mitarbeitern tätig war. Eine große Zahl von Opfern konnte vermieden werden." Ob der Befehlshaber der Schwarzmeerflotte, Wiktor Sokolow, bei dem Angriff ums Leben kam, wie ukrainische Propaganda-Blogs behaupteten, blieb mangels Stellungnahme aus Moskau bis zum Abend unklar.

"Ich habe das Gefühl, dass der Angriff einer britischen Rakete auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte den Ukraine-Konflikt in eine neue Phase führen wird", raunte einer der russischen Kriegsblogger: "Ich weiß nicht in welche, aber in eine neue. Und es muss nicht notwendigerweise durch Russland geschehen, worauf wir vorbereitet sein müssen." Die Chefredakteurin des TV-Senders "RT", Margarita Simonjan, schrieb so aufgebracht wie hilflos: "Der heutige Angriff auf Sewastopol, der vom kollektiven Westen, der Kiew regiert, durchgeführt wurde, bestätigt nur meine Theorie, dass die Eskalation exponentiell weitergehen wird, bis wir gezwungen sind, ihnen allen ein Ultimatum zu stellen, dass wir sie von nun an als Teilnehmer des Konflikts behandeln , also die militärischen Gegner, die sie sind. Ich sehe keine andere Möglichkeit."

Der Vorfall habe die "unrealistischen Hoffnungen der russischen politischen Elite auf ein 'Einfrieren' des Konflikts" deutlich gemacht, meinte ein weiterer Beobachter. Im Übrigen seien durch den Angriff wohl "geheime Absprachen" gebrochen worden, womit unterstellt wird, Moskau und Kiew hätten irgendwie vereinbart, ihre Hauptquartiere gegenseitig zu verschonen. Belege dafür gibt es nicht.

"Weniger Gerede und mehr schmerzhafte Maßnahmen"

"Die Luftverteidigung der russischen Armee braucht eindeutig ernsthafte Verstärkung", wetterte der kremlnahe Politologe Sergej Markow, der gleichzeitig bedauerte, dass Russland "fast keine Verbündeten" mehr habe, weil sich selbst diejenigen, die mal vorhanden waren, "manchmal zurückhielten". Der Propagandist Alexander "Sascha" Kots bemerkte bitter, es gebe nur einen "Hauptgrund", warum die Ukraine zugeschlagen habe: "Weil sie es können." Wenig tröstlich wirkte auch sein Hinweis, die Ukraine habe aus ihren Erfahrungen gelernt und könne die Luftabwehr dank NATO-Unterstützung jetzt ebenso gut orten und ausschalten wie die Russen.

"Wir drohen - sie machen es", hieß es bei einem der frustrierten Blogger: "Jetzt können wir mit Zuversicht sagen, dass es auf der Krim keine Orte mehr gibt, an denen nicht jeden Moment eine ukrainische Rakete oder Drohne einschlagen könnte. Und die Ukrainer haben weiterreichende Raketen noch nicht mal erhalten! Tatsächlich können Sie ab heute damit beginnen, die Zeit bis zur totalen Zerstörung der Krimbrücke herunterzuzählen." Ähnlich bewertete Militärexperte Boris Roschin die Lage: "Leere Drohungen ohne klare, verhältnismäßige Antworten haben im Jahr 2022 niemanden erschreckt, und sie machen auch jetzt niemandem Angst. Alles, was zu wünschen übrig bleibt, ist weniger Gerede über mögliche Antworten und rote Linien, sondern mehr praktische und schmerzhafte Maßnahmen für den Feind."

"Dann schalten sie besser das Licht aus"

Ohnmächtig vor Wut verlangten einige Patrioten, diejenigen schärfer zu bestrafen, die Aufnahmen des Vorfalls ins Netz stellten. Andere verhöhnten dagegen die Propagandisten, die gern von angeblichen "Minenräumungen" sprechen, wenn ukrainische Raketen einschlagen: "Wahrscheinlich hat mal wieder Gras Feuer gefangen. In diesen Gegenden gibt es unglaublich viel brennbares Gras. Es wird wahrscheinlich auch im Winter heftig brennen", spottete ein russischer Leser. Ein anderer vermutete, dass die "Tage auf der Krim jetzt wohl weniger behaglich" würden. "Die Videos im Netz sind natürlich albtraumhaft, aber schön und informativ", hieß es. "Unsere gesamte Armee wurde ausgeplündert und zum Saufen verführt. Seit den Neunzigerjahren hat sich wenig geändert, es besteht kein Grund, sie auch noch zu diskreditieren", meinte ein Kommentator bitter.

Naheliegend war die Frage: "Wenn sie nicht einmal das Flottenhauptquartier schützen können, was können wir dann über andere strategische Objekte sagen?" Fast schon philosophisch mutete folgender Blogeintrag an: "Es gibt so eigenartige Menschen – egal was sie unternehmen, es kommt immer genau das Gegenteil von dem heraus, was sie beabsichtigen. Und alles wäre in Ordnung, wenn das nur den einfachen Menschen passiert, aber wenn sie zufällig an der Spitze eines riesigen Staates stehen, dann schalten Sie besser das Licht aus."

"Woran werden wir uns sonst noch gewöhnen?"

Ein Blogger mit rund 200.000 Abonnenten schrieb sarkastisch: "Das ist die neue Normalität. Das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte wurde durch eine britische Rakete zerstört, auf der Tagesordnung steht bei uns aber vor allem die Frage, ob [angesichts stark steigender Coronainfektionen] wieder das Maskentragen eingeführt werden soll oder nicht. Woran werden wir uns sonst noch gewöhnen?" Mit denkbar schwarzem Humor verwies der Blogger darauf, dass der von Russland eingesetzte Gouverneur von Sewastopol, Michail Raswoschajew, die Ukraine auch noch indirekt für ihren Präzisionstreffer "gelobt" habe, denn der Politiker hatte darauf hingewiesen, dass "keine zivilen Objekte" in Mitleidenschaft gezogen worden seien.

"Wir müssen ihnen Beine machen"

Tatsächlich gebe es in "hybriden Kriegen" eine neue Art von Normalität, pflichtete ein Blogger aus Pskow bei und deutete an, dass der Kreml auch diesmal allenfalls symbolisch reagieren werde: "Es gibt bestimmte höhere Ziele [der politischen Führung], die nur wenige Menschen kennen und die sich offenbar dynamisch verändern. Unter solchen Bedingungen gibt es keine Frontlinien mehr, keine roten Linien – auch keine existenziellen Bedrohungen. Die Karawane fährt weiter, obwohl niemand wirklich weiß, wohin. Aber viele in den Massen glauben trotz alledem, dass es diesen Plan gibt, und sie folgen ihm. Um irgendein höheres Ziel zu erreichen und das Vertrauen der Massen aufrechtzuerhalten, dass die Situation unter Kontrolle ist, wird niemand [im Kreml] plötzliche Aktivitäten entfalten."

Ein weiterer "Z-Blogger" steigerte sich in wilde Rachefantasien: "Wir müssen allen möglichen ukrainischen Ministern und Abgeordneten Beine machen, die gesamte Führung des dortigen Geheimdiensts muss ständig beschäftigt, ständig in Bewegung gehalten werden, darf nicht länger als eine Nacht an einem Ort schlafen, sich durch offenes Gelände nur laufend fortbewegen. Sie müssen die meiste Zeit in unterirdischen Bunkern verbringen und zittern, dass unsere 'Dolche' sie nicht erreichen. Nur dann wird die Zahl solcher Angriffe deutlich zurückgehen."

Wut über Tod russischer "Friedenstruppen"-Soldaten

Die Nerven von Putins treuesten Fans liegen auch deshalb blank, weil im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien einige hochrangige Offiziere der russischen "Friedenstruppe" getötet wurden, darunter Iwan Kowgan, "Kapitän 1. Ranges" und stellvertretender Kommandeur der arktischen U-Boot-Flotte. Dafür hatte sich Aserbaidschan zwar auf höchster Ebene "entschuldigt" und den Vorfall mit schlechtem Wetter und unübersichtlichem Gelände begründet, doch das beruhigte die russischen Patrioten keineswegs. Dass der Kreml einfach darüber hinweg ging, erboste etwa das viel gelesene Portal "Rybar" (1,23 Millionen Fans): "Das Ausbleiben einer harten Reaktion Russlands sorgt erneut für öffentliche Unzufriedenheit, und Berichte über die Bereitschaft der Behörden in [der aserbaidschanischen Hauptstadt] Baku, den Hinterbliebenen Entschädigungen zu zahlen und die Täter festzunehmen, wirken für das russische Publikum wie Hohn."

Der Kreml habe "Öl ins Feuer" geschüttet, so "Rybar": "Wer wird für den Tod der Soldaten verantwortlich sein? Warum kam es erneut zu der Situation, dass sich niemand von oben für die russischen Soldaten einsetzte? Diejenigen, die jetzt an der Front stehen, können eine solche Einstellung gegenüber dem Personal nicht verstehen. Vor allem vor dem Hintergrund, dass einige der in Berg-Karabach stationierten Friedenstruppen zuvor an der Front im nördlichen Militärbezirk [in der Ukraine] waren und dort sogar Verletzungen erlitten hatten. Und alle Neuigkeiten über die angebliche Inhaftierung der Mörder, die Absetzung ihres Kommandanten, Entschuldigungen und Entschädigungen in Ermangelung wirklicher Härte steigern nur die öffentliche Wut."

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