Der Intendant des Mariinski-Theaters am Mikrofon
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Valery Gergiev (Mitte) bei der Kuratoriumssitzung

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"Wir verstehen uns": Dirigent Valery Gergiev huldigt Putin

Gegenseitige Komplimente und Verständnis: Beim Treffen des St. Petersburger Mariinski-Theaters mit dem russischen Präsidenten hat der Ex-Chefdirigent der Münchner Philharmoniker einen großen Auftritt. Er dankte Putin für "unglaubliche Möglichkeiten".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Typischer Fall von Größenwahn", spottete ein russischer Leser über das pompöse Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem Generalintendanten Valery Gergiev, ehemals Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Nach sechs Jahren Pause kam das Kuratorium des St. Petersburger Mariinski-Theaters wieder mit dem Kreml-Chef zusammen, um gegenseitige Höflichkeiten auszutauschen und hinter den Kulissen wohl auch über Geld zu reden. Putin lobte seinen Gefolgsmann Gergiev über den grünen Klee und sagte: "Es ist offensichtlich, dass diejenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, die russische Kultur aus dem Welterbe auszulöschen, in erster Linie sich selbst berauben. Vor dem Hintergrund der Größe der russischen Kunst sind solche Aktionen unbedeutend. Ich werde hier nicht auf Details eingehen – wir verstehen uns."

"Ich hoffe, wir werden zurechtkommen"

Valery Gergiev schaffte es, nicht nur der Theatergründerin Katharina der Großen und dem Zaren Alexander II. für ein "wahrhaft königliches Geschenk" zu danken, sondern Putin mit diesen historischen Persönlichkeiten auf eine Stufe zu stellen: "Vielen Dank, Wladimir Wladimirowitsch, denn die zweite Spielstätte des Mariinski-Theaters ist ein Geschenk des Landes, das Ihre Entscheidung war. Sie hat unsere Möglichkeiten unglaublich erweitert. Ich wiederhole: unglaublich." Gergiev sprach von einem der "stärksten Theaterkomplexe der Welt" und zeigte sich von der eigenen Bedeutung geradezu erschüttert: "Es ist unsere direkte und heilige Pflicht, ich hoffe, wir werden damit weiterhin zurechtkommen." Am 5. Oktober feiert das Mariinski-Theater seinen 240. Geburtstag.

Weil er kaum noch zu internationalen Auftritten eingeladen wird, hat der Dirigent, der von September 2015 bis Februar 2022 die Münchner Philharmoniker leitete, jetzt viel Zeit für innerrussische Tourneen, etwa an die Geburtsstätten von Nikolai Rimski-Korsakow oder Modest Mussorgsky. Das St. Petersburger Mariinski-Theater spiele heutzutage im eigenen Haus zehn Mal mehr Vorstellungen als noch vor ein paar Jahren, so Gergiev, freilich ohne zu erwähnen, dass es kaum noch Tour-Angebote gibt.

"Wir stehen vor ziemlich komplexen Problemen"

Bitter ist für den einstigen Weltstar nicht nur, dass er jetzt durch die russische Provinz tingeln muss, auch das Kuratorium seines Opernhauses ist arg dezimiert, wie die "Moskowski Komsomolez" (MK) beobachtete: Statt früher vierzig internationale Geschäftsleute sitzen jetzt nur noch 13 in dem Gremium, darunter ein einziger Ausländer, ein Franzose, der unter dem "faszinierenden" Namen "Rocks of Fire" angeblich eine Logistikfirma im Oman betreibe: "Die Branche ist für Russland heute ja so wichtig." Sämtliche westlichen Konzerne, die mit ihren russischen Niederlassungen die Oper gesponsert hatten, darunter Ölkonzerne wie BP und Total, haben sich längst zurückgezogen. Oder, wie es die MK ausdrückte: Die einen verkauften ihre Anteile, andere traten zurück, wieder andere seien auf der Flucht.

Unangenehme Themen wurden nicht besprochen, aber angedeutet. So soll Valery Gergiev in der kaukasischen Stadt Wladikawkas eine Zweigstelle eröffnen, doch die Finanzierung für die zwei geplanten Säle sei fraglich. Die Theaterleute handelten zwar "zügig und entschlossen", das ändere aber nichts an "Schwierigkeiten". Wörtlich sagte der Dirigent: "Wir stehen vor ziemlich komplexen Problemen – darüber werden wir kurz, aber ganz klar, wie es mir scheint, erst hinterher sprechen." Offenbar habe sich Gergiev selbst "eingefangen", vermutete die Berichterstatterin, weil er in der Öffentlichkeit "keine schmutzige Wäsche" waschen wollte.

Der Einzige, der den Niedergang des Mariinski offen ansprach, war Alexej Kudrin, bis vor einigen Monaten Chef des russischen Rechnungshofs und bekennender Kriegsgegner. Er hatte sich in die Privatwirtschaft abgesetzt. Den Journalisten sagte er, durch die Corona-Pandemie und "andere Einschränkungen" seien viele Geldquellen versiegt, Tourneemöglichkeiten eingeschränkt: "Mit anderen Worten, die Einnahmen sind gesunken." Die verbliebenen Geldgeber würden ihre Anstrengungen aber "verstärken". Angeblich führt Gergievs Haus jährlich umgerechnet rund acht Millionen Euro Steuern an die Stadt ab, versteht sich also als kommunaler Wirtschaftsfaktor.

"Russische Kultur irgendwie unwichtig geworden"

Putin hatte dem Haus Weltniveau bescheinigt und gelobt, hier sei alles "ganz groß angelegt". Das wollten einige St. Petersburger allerdings so nicht stehen lassen. Sie höhnten, Putins Kulturkenntnisse beschränkten sich auf ein paar "alte Popsongs", die sich "mit einer Hand auf dem Klavier" spielen ließen und den Hits der Propaganda-Band "Ljube". "Wir werden bald vor unserer eigenen Bedeutung platzen", schämte sich ein Kommentator. Putin wurde als "lustiger Opa mit Porzellan-Gesicht" beschimpft. "Diese Aussagen des großen Führers werden sicherlich in die Schatzkammer des Weltdenkens eingehen", meinte ein Putin-Verächter und ein kundiger Theater-Fachmann schrieb: "Wenn Putin fähige Berater hätte, hätten sie ihm verraten können, dass gerade jetzt 'Schwanensee' an der Mailänder Scala aufgeführt wird und niemand auf der Welt die große russische Kultur cancelt. Dass unsere Kultur im Moment irgendwie unwichtig geworden ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber es sind wahrscheinlich nicht die Imperialisten der Welt, die dafür verantwortlich sind."

Kim Jong-un kam zu "Dornröschen"

Kultur bestehe aus Tolstoi und Solschenizyn, gab jemand zu bedenken, nicht aus den Reden von "Politikern" wie Gergiev. Konkret hieß es über den Dirigenten: "Für Valerka ist es nicht einfach, nach dem Ausfall der westlichen Honorare zu überleben. Er braucht dringend Hilfe." Ein Tipp wurde von anderer Seite nachgeliefert: "Da es in Russland keine Kreuzfahrtschiffe gibt, könnten die Künstler auf unseren Eisbrechern auftreten." Propagandistischen Trost schöpfen könnte Gergiev aus dem Besuch eines prominenten Gasts seines Theater-Imperiums: Kürzlich besuchte der nordkoreanische Staats- und Parteichef Kim Jong-un eine Aufführung des Balletts "Dornröschen" in der Mariinski-Spielstätte im fernöstlichen Wladiwostok. Der Staatsgast verließ das Haus allerdings nach dem ersten Akt.

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