Porträt des Autors beim Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2022
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Schriftsteller Dmitri Gluchowski

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"Das Böse ist profitabel": So hält sich Putin an der Macht

Der Schriftsteller Dmitri Gluchowski untersuchte die Herrschaftsmethoden des Kremls. Sein Fazit: "Die bösen Mächtigen belohnen ihre Anhänger normalerweise großzügig genug, um ständig neue Anhänger zu korrumpieren." Ist das der "Kitt" des Putinismus?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ist es wirklich nur Repression, mit der sich Putin und seine Getreuen an der Macht halten? Haben die Russen Angst vor Lagerhaft, Arbeitsplatzverlust und öffentlicher Demütigung, falls sie gegen den Krieg protestieren? Der Autor Dmitri Gluchowski ist überzeugt, dass Putin zwar auch auf Unterdrückungsmaßnahmen setzt, andere Methoden allerdings mindestens ebenso gut funktionieren. Und damit steht Gluchowski nicht allein da: Auch die in Berlin lebende russische Sozialforscherin Alexandra Prokopenko kommt in einer aktuellen Analyse des "Putinismus" zum Ergebnis, dass die Kombination aus "Zuckerbrot und Peitsche" vom Kreml-Regime perfektioniert wurde.

"Mit tierischem Hass kommt man nicht weit"

Konkret folgert Dmitri Gluchowski, der mit der Science-Fiction-Trilogie "Metro" bekannt wurde, dass es sich für Putins Gefolgsleute in jeder Hinsicht lohnt, dem Regime die Treue zu halten, was auch psychologische Ursachen habe: "Menschen, die die Freiheit kennengelernt haben, die das Böse verleiht, die die Macht gekannt haben, die die Gewalt mit sich bringt, finden es schwierig, zu einem langweiligen, gewöhnlichen, tugendhaften Leben zurückzukehren." Besonders "Menschen, die selbst einmal Demütigungen erlitten haben und dadurch traumatisiert wurden" seien für die Verlockungen des Bösen "besonders anfällig". Putin belohne seine Fans "großzügig", was ständig neue Anhänger "korrumpiere". Sie kämen in den Genuss einer "Freiheit", alle ethischen Maßstäbe hinter sich lassen zu können.

"Wenn Sie sich auf die Seite des Bösen stellen, gewinnen Sie die Freiheit, sich auf Willkür einzulassen und von den Menschen auf der anderen Seite der Barrikade zu profitieren", so Gluchowski: "Jeder Völkermord hat immer auch wirtschaftliche Motive. Ob man die Hütte eines Tutsi besetzt, indem man ihn mit der Hacke totprügelt, oder ob man den Menschen in Auschwitz die Goldzähne ausreißt oder einem Hugenotten als gläubiger Katholik sein Vermögen wegnimmt, es gibt immer einen deutlichen zusätzlichen Anreiz. Mit tierischem Hass auf Vertreter anderer Gruppen allein kommt man nicht weit."

"Jeder darf lügen, auch ich"

In seiner "Prognose" für Russland schreibt der Schriftsteller, der in seiner Heimat in Abwesenheit wegen "Falschinformationen über die Armee" zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, die Aussichten seien zwar nicht "katastrophal", aber auch nicht "tröstlich". Er erwartet, dass eine weitere Generation aus "Zynikern" entsteht, die zum "Doppeldenken" fähig seien, wie es einst der britische Schriftsteller George Orwell in seinem Horror-Roman "1984" beschrieb: "Zumindest sind sie keine Sklaven: Ich bin der Letzte, der glaubt, dass die Russen genetisch zum Sklavendasein programmiert sind." Eine Art "passiver, geheimer Widerstand" werde wohl dominieren. Zum Zynismus zählt Gluchowski die Taktik Putins, seine eigenen ideologischen "Wahnvorstellungen" aus dem Kalten Krieg mehrheitsfähig zu machen. Aus der Sicht des Kremls gebe es keine "Wahrheit", sondern nur "Standpunkte".

Psychologisch habe das verheerende Folgen: "Die Wahrheit scheint grundsätzlich nicht mehr zu existieren. Und die Tatsache, dass jemand lügt, und die Tatsache, dass ich selbst lüge, macht mich nicht mehr zu einem willentlichen Schurken. Denn Wahrheit existiert nicht mehr als Möglichkeit, als Konzept. Das ist nur noch ein unerreichbares Ideal. Daher darf jeder lügen, auch ich. Und daher ist die Verbreitung von Lügen nichts offensichtlich Unmoralisches mehr."

"Nach Putins Tod wird sich nichts verändern"

Keine Hoffnung setzt Gluchowski auf die schrecklichen Folgen des Kriegs, ganz im Gegenteil: Die Verwundeten, die Angehörigen der Gefallenen, die Menschen, deren Hab und Gut vernichtet worden seien, hätten das dringende Bedürfnis, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten, wobei ihnen die Propaganda eine psychologische Stütze sei: "Je bedeutungsloser das Opfer eines Menschen ist, desto größer ist das Bedürfnis für ihn, sich dieses Opfer selbst zu erklären, ihm einen Sinn zu geben." Der Schriftsteller erinnerte an die Verfolgungen unter Stalin, als Familienmitglieder von Ermordeten und Verschleppten irgendwann selbst daran glaubten, dass die Angehörigen "Trotzkisten" gewesen seien. Damals seien sogar Menschen zu "Stalinisten" geworden, die persönlich unter den Verbrechen des Diktators gelitten hatten.

"Wenn sich die Dunkelheit lichtet und Wladimir Wladimirowitsch Putin in eine andere Welt geht, wird sich für die Menschen, die auf die Seite des Bösen, auf die Seite der Lügen wechselten, nichts verändern", so Gluchowski pessimistisch. Dieser Weg sei nämlich seiner Meinung nach eine moralische "Einbahnstraße". Er glaubt daher auch nicht, dass ideologische Überzeugungs-Täter wie SS-Männer oder auch Stalins Schergen jemals aufrichtig "Reue" zeigten.

"Die Rechnung ist einfach"

Die Sozialforscherin Alexandra Prokopenko vom "Carnegie Berlin Center for Russian and Eurasian Studies" glaubt ebenfalls, dass die materiellen Vorteile des "Bösen" den "Kitt des Putinismus" ausmachen. Der russische Präsident habe es verstanden, der kriegsmüden Elite deutlich zu machen, dass jeder Widerstand für sie erhebliche Wohlstandseinbußen zur Folge hätte. So sei es sehr schwer geworden, Vermögenswerte ins Ausland zu bringen oder Geschäftsanteile in Russland abzustoßen. Zwar begrüße der Kreml offiziell ausländische Investoren, doch auf irgendwelche Eigentumsgarantien könne er getrost "verzichten". Mit den "jungen Obersten und Generälen des Geheimdiensts und den mit ihnen verbundenen Personen" stünde eine neue Elite bereit: "Die Rechnung ist einfach: Wenn der Putinismus jemals in eine Krise geraten sollte, werden die neuen Eigentümer auftreten, um das 'Ihre' zu verteidigen und gleichzeitig das Regime zu retten."

"Loyalität ist wertvoller als Kompetenz"

Putin könne sich auf gewiefte "Technokraten", etwa in der Nationalbank, verlassen: "Putin weiß sehr gut, dass ihn vielleicht nicht jeder schätzt. Aber es gelang ihm, Bedingungen zu formulieren, die der Mehrheit [der Elite] entgegenkamen. Putins Alleinstellungsmerkmal gegenüber der vorherigen Ära war: Alles, was vorher verdient wurde, bleibt ihnen, der Präsident garantiert, dass diese Regel unverändert bleibt." Praktisch niemand scheide aus diesem Belohnungssystem aus. Loyalität sei unter Putin ein besonders strapazierfähiger Zement, der die Verhältnisse stabilisiere: "Trotz des offenbarten Ausmaßes an Problemen und Korruption in den Reihen der Streitkräfte ist Verteidigungsminister Sergej Schoigu immer noch im Amt. Für Putin ist Loyalität viel wertvoller als Kompetenz oder gar die Verehrung, die Diktatoren sonst oft wünschen."

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