Mähdrescher entleert Getreide in Anhänger
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Ernte in Russland: Angst um den Treibstoff

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"Es ist eine Katastrophe": Geht Putin der Treibstoff aus?

Der russische Landwirtschaftsminister fürchtet um die Ernte, weil es an Diesel mangelt. Der Rubel stürzt erneut ab, russische Staatsanleihen will kaum noch jemand haben: Putin hat jede Menge Probleme mit der Finanzierung seines Angriffskriegs.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Kaum zu glauben, aber der russische Landwirtschaftsminister Nikolai Patruschew, der sogar als einer von Putins möglichen Nachfolgern gehandelt wird, fürchtet um die diesjährige Ernte, weil der Agrardiesel knapp wird. Er sagte bei einem Auftritt im zuständigen Parlamentsausschuss laut Nachrichtenagentur Interfax: "Wir haben Probleme mit der Verfügbarkeit von Kraftstoff, wir müssen die Ernte unterbrechen und können die Felder nicht für das Wintergetreide bestellen. Es ist eine Katastrophe." Patruschew dachte nach eigenen Worten "laut" nach und ergänzte, womöglich sei es hilfreich, die Ausfuhr von Ölprodukten "vorübergehend einzustellen, bis wir die Lage im Inland stabilisiert haben". Das sei ein "eklatantes Problem, jeder sollte sich damit befassen."

"Tankstellen vor der Schließung"

An russischen Tankstellen gibt es derweil entweder gar kein Benzin mehr, vor allem im Süden des Landes, oder zu deutlich erhöhten Preisen. Der Ferne Osten soll besonders betroffen sein. Der Liter kostet derzeit umgerechnet rund 55 Cent, gut sieben Prozent mehr als zu Jahresbeginn. Für den Herbst werden deutlich über 60 Cent vorhergesagt, was angesichts der niedrigen russischen Einkommen für viele schier unerschwinglich ist. Die rechtspopulistische Liberaldemokratische Partei forderte bereits staatliche Preiskontrollen, auch Wirtschaftsexpertin Tatjana Skryl befürwortete Eingriffe des Kremls und fürchtete um die Tankstellen, von denen nicht wenige vor der Schließung stünden, "wenn sich die Lage weiter verschlimmere".

In den sozialen Netzwerken wird schon gescherzt, Putin werde aus symbolischen Gründen sicher zu verhindern wissen, dass der Liter mehr als umgerechnet einen Dollar kosten werde. Die Regierung wollte die Subventionierung der Benzinpreise eigentlich reduzieren, um den Haushalt zu entlasten, musste jedoch wegen des Preisdrucks auf diese Sparmaßnahme verzichten. Auch die neue Anweisung, bis 2026 dürften nur "Raffinerien", keine Zwischenhändler, exportieren, wird für wenig sinnvoll erachtet.

"Befüllen des Kühlschranks" schwieriger

Der große Bedarf der Armee ist nur einer von mehreren Gründen für die Kraftstoffkrise: Es fehlt angeblich an Transportmöglichkeiten, viele Raffinerien würden "saniert", der Urlauberverkehr beanspruche den Markt überdurchschnittlich, hieß es offiziell (BR24 berichtete). Doch Landwirtschaftsminister Patruschew nannte einen weiteren Hauptgrund für Putins Treibstoffkrise: Die Ölkonzerne exportieren ihre Produkte lieber, statt sie im Inland abzusetzen. Russisches Öl - im August wurden 2,28 Millionen Barrel täglich exportiert, der niedrigste Stand seit elf Monaten - wird nämlich teilweise mit harten Devisen wie US-Dollar oder Euro bezahlt, und weil der Rubel abgestürzt ist, also international immer wertloser wird, sanieren diese Devisen rein optisch den Staatshaushalt: Für einen Dollar gibt es derzeit knapp 99 Rubel, auch die Grenze von 100 Rubeln wurde vor einigen Wochen bereits überschritten. Diese Rubel-Schwemme hilft zwar, Haushaltslöcher zu stopfen, heizt jedoch gleichzeitig die Inflation an und bringt Putins Wirtschaft dadurch immer weiter in Schieflage.

Der russische Energiemarkt-Experte Dmitri Lyutiagin sagte dazu: "Wenn Länder wie Indien oder Brasilien 1.000 US-Dollar pro Tonne Diesel oder Benzin bieten, welchen Grund hat der Produzent dann, Treibstoff nicht an sie zu verkaufen, sondern ihn in Russland billiger zu veräußern?" Verhindern könnten das nur höhere Ausfuhrzölle oder ein Ausfuhrverbot, dann werde Russland aber deutlich weniger Devisen kassieren. Putin steckt also in einem Dilemma: Entweder würgt er wegen des hohen Exportanteils beim Treibstoff den Inlandsmarkt ab, oder er lässt Russland mit Sprit versorgen und muss in der Folge zwangsläufig auf Dollar und Euro-Einnahmen verzichten.

"Die Schlussfolgerung ist ganz einfach: Die politische Führung unseres Landes schließt das Haushaltsdefizit und die 'Löcher' gekonnt auf Kosten der Geldbörsen unseres Volkes", so der populäre Blogger Kiril Kachur: "Je stärker die Inflationsrate, desto geringer ist die Kaufkraft unserer Bevölkerung. Die geringe Kaufkraft der Bevölkerung wirkt sich auf alles aus, auch auf das Befüllen des Kühlschranks."

"Politiker widersprechen sogar formaler Logik"

Andere Blogger verwiesen darauf, dass in Russland schon vor Jahrzehnten ein "Krieg" zwischen der Agrar- und der Öllobby tobte: Nach Stalins Tod galt sein direkter Nachfolger und Geheimdienstchef Lawrenti Beria als Patron der Ölwirtschaft, während sich Nikita Chruschtschow, der Beria schließlich festnehmen und hinrichten ließ, als Schirmherr der Landwirtschaft profilierte: "Wenn wir über die Lehren aus dem Afghanistankrieg und die Gründe für den Zusammenbruch der UdSSR sprechen, dann spielten übrigens die Probleme der Landwirtschaft und die Unfähigkeit der Führung, die wachsende Nahrungsmittelknappheit zu bekämpfen, eine genauso große Rolle wie die damalige Entscheidung der Saudis, die Weltölpreise zusammenbrechen zu lassen [was die UdSSR erheblich schwächte]."

Es gebe "immer mehr Anzeichen" dafür, dass der Wechselkurs des Rubels durch die Ölmarkt-Turbulenzen "außer Kontrolle" gerate, hieß es in einem weiteren maßgeblichen Blog mit 330.000 Fans. Immerhin habe Putin die russische Zentralbank nach einem beispiellosen Rubelabsturz ja erst vor wenigen Wochen zu einer massiven Zinserhöhung gedrängt, um die Währung zu stabilisieren: "Die Tatsache, dass sich die Lage so schnell wieder zuspitzte, deutet jedoch darauf hin, dass die Vereinbarungen nicht funktionieren oder dass die vorübergehende Verbesserung mehr oder weniger zufällig geschah. Gleichzeitig wächst die Menge widersprüchlicher Informationen hochrangiger Politiker, die sogar der formalen Logik widersprechen." Dazu gehöre, dass das russische Finanzministerium ankündigte, mehr Gold anzukaufen.

"Gefahr einer echten Währungskrise"

Wenn der Rubel weiter falle, etwa erneut über einen Kurs von 100 Rubel für einen US-Dollar, werde in der Bevölkerung Panik ausbrechen, viele Russen würden dann erst recht um jeden Preis harte Devisen kaufen, um ihre Ersparnisse zu retten, und damit die Abwärtsspirale weiter beschleunigen. Ganz nebenbei wird Putins Haushaltslage dadurch verschärft, dass sich in der Zentralbank wertlose Rupien anhäufen, mit denen Indien seine Ölimporte bezahlt hat. Doch für Rupien sind international keine Waren erhältlich, die Russland benötigt. Die Umorientierung der russischen Exporteure von Europa nach Asien sei "bedauerlicherweise kostspielig", räumte Blogger Georgi Bovt ein.

Die Flucht in Sachwerte ist im vollen Gang: Auf dem russischen Markt für Immobilienhypotheken werden Monat für Monat neue Rekorde erreicht, weil Anleger trotz hoher Zinsen davon ausgehen, dass ihre Schulden durch die gleichzeitig hohe Inflation erträglich bleiben werden. Also fließt viel Geld in Wohnungen und Häuser. Im Jahresvergleich stieg die Kreditvergabe im August um fast 66 Prozent. Die Politik des "weichen Geldes" bringe die "Gefahr einer echten Währungskrise" mit sich. Experte Daniil Grigoriew hielt eine Entwicklung wie 1998 (Staatsbankrott) oder 2014 (Börsenpanik und Rubel-Einbruch von vierzig Prozent) jedoch für "unwahrscheinlich".

"Keine angemessenen Preise" für russische Staatsanleihen

Kein Wunder, dass bei all diesen Problemen das Interesse an russischen Staatsanleihen stark rückläufig ist. Der Markt dafür gerate "in Panik", sagte Banker Andrej Kokrin der in Amsterdam publizierten "Moscow Times". Habe die russische Regierung vor dem Krieg für ihre Schulden noch rund sieben Prozent Zinsen zahlen müssen, seien es jetzt schon knapp zwölf. Die einzigen, die überhaupt noch Moskaus Staatsanleihen kauften, seien staatliche russische Banken. Die aber seien so zurückhaltend geworden, dass kürzlich die Versteigerung neuer Anleihen "für ungültig" erklärt worden sei, weil "keine angemessenen Preise" geboten worden seien. Der Finanzfachmann schließt nicht aus, dass es zu einem Kurseinbruch bis zu vierzig Prozent komme.

Da ist es auch nicht gerade hilfreich, dass Putin aus offenkundigen Gründen den bevorstehenden G20-Gipfel im indischen Delhi "schwänzen" muss, obwohl Russland dort in Abwesenheit auf der "Anklagebank" sitzen wird: "Das Umfeld der G20 sieht für den Kreml äußerst ungünstig aus. Russland wird wegen des Ukraine-Konflikts kritisiert, für sein Vorgehen in Afrika, für die Beendigung des Getreideabkommens, für die globale Inflation, für die Verletzung der Weltordnung, für die Verletzung von Menschenrechten, für die Einmischung in Wahlen in den USA und Europa, für Manipulation und Propaganda. Zum ersten Mal in seiner langen Geschichte wird Russland auf dem G20-Gipfel seine grundsätzliche Position nicht darlegen können." Statt nach Indien zu fliegen, will sich Putin in Wladiwostok zeitgleich mit dem G20-Gipfel mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un treffen. Russland hofft auf Munitionslieferungen.

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