Blick auf das Display einer Zapfsäule
Bildrechte: Alexander Reka/Picture Alliance

Russische Tankstelle

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Chaos und nochmals Chaos": Darum wird in Russland Benzin knapp

Ausgerechnet in der einstigen "Tankstelle" Europas wird der Sprit knapp und teuer. Die Gründe sind vielfältig, die Debatte darüber lautstark. Auch Lebensmittel werden in Russland kostspieliger. Was bedeutet das für Putins krisenanfälliges Regime?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der EU-Außen- und Sicherheitsbeauftragte Josep Borrell sorgte kürzlich in Moskau für Aufruhr, weil er Russland als "wirtschaftlichen Zwerg" bezeichnete. Das Land sei "wie eine Tankstelle, deren Pächter eine Atombombe" besitze. Doch so, wie es aussieht, geht der "Tankstelle" allmählich das Benzin aus. Jedenfalls melden Städte wie Wolgograd, Astrachan und Saratow Engpässe, und der Preis steigt unablässig. Das sorgt für viel Frust und eine lautstarke Debatte. Sogar die regierungsnahe Iswestija kommt um das Thema nicht herum und warnt, dass "immer mehr Regionen" einen Kraftstoffmangel beklagten, nicht zuletzt die besetzte Krim. Für ein so riesiges Ölförderland wie Russland sind das groteske Nachrichten. Offiziell heißt es, die "Lieferzeiten" hätten sich stark verlängert, weil die russische Bahn überlastet sei. Außerdem gebe es eine hohe "saisonale Nachfrage" und etliche Raffinerien würden gerade saniert.

Benzin-Ausfuhr ist lukrativer

Der "Iswestija" zufolge musste Russland wegen der Sanktionen "neue Logistikketten" aufbauen, der Treibstofftransport nehme doppelt so viel Zeit in Anspruch wie vor dem Krieg. Landwirte beschweren sich über eine Dieselknappheit, ausgerechnet zur Erntezeit. Die höheren Kosten würden sich zwangsläufig auf die Lebensmittelpreise auswirken. Es wird allerdings auch spekuliert, dass russische Ölproduzenten, die überwiegend in staatlicher Hand sind, wegen des abgestürzten Rubels derzeit ein hohes Interesse haben, ihre Produkte zu exportieren.

Dafür bekommen sie harte Devisen, die sie dann gegen sehr viele Rubel eintauschen (müssen). Das hilft rein optisch dem hochdefizitären russischen Staatshaushalt, heizt allerdings die Inflation noch weiter an. Das Parlament hat bereits höhere Zölle für die Ausfuhr von Benzin angemahnt, auch Experte Wladimir Tschernow sagte der "Iswestija", eine "Begrenzung des Exportvolumens" sei wünschenswert. Fachmann Alexander Kurschudow verwies in einem Radiointerview darauf, dass Russland pro Tag "eine Million Barrel Diesel" ins Ausland verkaufe. Vor allem Türken, Saudis und Ägypter gehörten zu den Kunden.

Propagandamedien auf der Krim wollten die Treibstoffknappheit, die in den staatlich gesteuerten Medien thematisiert wurde, übrigens als "Fake" entlarven: "Diese Berichte sind falsch und sollen lediglich Panik in der örtlichen Bevölkerung schüren." Bemerkenswert, dass sich die kremlnahen Agitatoren damit gegenseitig als "unglaubwürdig" beschimpften. Der Gouverneur der Region Stawropol, Wladimir Wladimirow, hatte Alarm geschlagen, dass die Bauern "jetzt am meisten" litten: "Wir versuchen, das Problem zu lösen. Ich hoffe, dass wir gehört werden."

Lobby spricht von "Anpassungsprozess"

"Wir haben ein systemisches Problem", seufzte der Präsident der Kraftstofflobby, Pawel Baschenow, und jammerte über die Ferienzeit und die Eisenbahninfrastruktur. Auch die vordringliche Versorgung der Armee sei ein Grund für die angespannte Lage. Er sprach in seinem Telegram-Blog von einem "Anpassungsprozess", irgendein "Versagen" sei dagegen nicht erkennbar. "Versicherungen, Tanken und Reparaturen reißen Zehntausende von Rubel aus dem Familienbudget", schimpfte das Portal "Russland kurzgefasst" mit fast 500.000 Abonnenten. Benzin sei in diesem Jahr real neun Prozent teurer geworden, hieß es in der Zeitung "Nesawissimaja Gazeta". Andere Marktbeobachter wollten an den Zapfsäulen seit Mai eher 25 Prozent Inflation beobachtet haben. Obendrein würden Ersatzteile wie Getriebe- und Motorteile durch die Sanktionen immer kostspieliger. Autohändler mutmaßen, manche Russen würden die Nachschubprobleme noch verschärfen, indem sie sowohl Treibstoff als auch Ersatzeile horteten.

"Irgendwie haben wir uns das anders vorgestellt"

Damit nicht genug: Im Herbst werde der Preis für Brot in Russland um zehn Prozent steigen, hieß es in Experten-Blogs. Grund dafür seien die deutlich höheren Rohstoffpreise und der Kostendruck bei der Wartung von importierten Maschinen. Mitarbeiter wollten für die bisherigen Gehälter nicht mehr arbeiten. Russische Bäckereien versorgten sich vorzugsweise im Ausland mit Malz und Zusatzstoffen. Die Fahrzeugflotten kämen die Brotproduzenten ebenfalls immer teurer zu stehen.

"Unmöglich zu glauben", hieß es dazu in einem populären Blog: "Die Propaganda war doch davon überzeugt, dass der Ausstieg aus dem Getreideabkommen [mit der Ukraine] eine Wende bringen würde. Brot sollte zu einem unerschwinglichen Luxus für die verdammte westliche Bourgeoisie werden, und Russland endlich einen fairen Preis für sein Getreide bekommen. Und was ist geschehen? Es scheint, dass absolut jede Maßnahme der russischen Regierung ein garantiertes Ergebnis hat – eine Erhöhung des Preises des Endprodukts für die russischen Bürger. Irgendwie haben wir uns das anders vorgestellt, 'die Abhängigkeit vom kollektiven Westen loszuwerden'."

"Toleranz" gegenüber der Inflation?

Das russische Landwirtschaftsministerium ließ verbreiten, Brot werde zwar teurer, aber nur in Höhe der durchschnittlichen Inflation. Alles andere habe "nichts mit der Realität" zu tun. Auch die Regierung als Ganzes forderte die Russen dazu auf, "Gerüchten über einen starken Preisanstieg bei Brot" keinen Glauben zu schenken. Wirtschaftswissenschaftler Leonid Kolod vermutete, die Marktakteure wollten insgeheim die Duldungsfähigkeit der Landsleute austesten. Es sei offen, ob die Preise wegen "Absprachen" oder "psychologischer Faktoren" anzögen. Möglicherweise wirke die "Hysterie" der Verbraucher beschleunigend. Der kremlnahe Politologe Ilja Ananjew behauptete, die Russen würden der Regierung mit ihrer "Toleranz" gegenüber der Inflation einen "Wahlbonus" einräumen. Weder "zwei Rubel" mehr für den Liter Benzin, noch "fünfzig Kopeken" für den Laib Brot würden sie beunruhigen.

"Chaos und nochmals Chaos"

Ganz so gelassen scheinen viele Russen allerdings nicht zu sein. Da wird über die Kostenexplosion beim Benzin gezetert, aber auch darüber, dass die Hauskatze, die "an importiertes Futter" gewöhnt sei, im Unterhalt jetzt plötzlich vier Mal teurer sei. "Chaos und nochmals Chaos. Die Unternehmen machen, was sie wollen, und der Staat bestraft sie in keiner Weise", wird geschimpft. Putins Partei "Einiges Russland" habe "seit zwanzig Jahren 99 Prozent ihrer Versprechen" nicht gehalten. Das Energieministerium sei eine "nutzlose Einrichtung". Russland sei wie ein "Schuhmacher ohne Stiefel", wenn es jetzt schon mit dem Benzin Probleme gebe. Preiserhöhungen müssten "verboten" werden, wurde gefordert, in den Behörden säßen überhaupt nur noch "Volksschädlinge". Russland könne offenbar Pipelines nach Europa und in die Türkei verlegen, sei aber anscheinend nicht in der Lage, das eigene Volk zu versorgen: "Dabei ist das doch keine schwierige Herausforderung."

Soziale Unruhen gelten als größtes Risiko für Putin. Insbesondere die Rentner mit ihren sehr bescheidenen Einkommen gelten als Stütze des Systems, beziehen sie doch mehr oder weniger alle Informationen aus dem Staatsfernsehen. Wenn sich deren Lebensbedingungen deutlich verschlechtern sollten, droht Putin bei der für März geplanten Präsidentschaftswahl Ungemach. Der Kreml soll intern eine Zustimmungsrate von 85 Prozent anstreben, eine Zahl, die selbst mit Wahlmanipulationen angesichts sozialer Unzufriedenheit unerreichbar wäre, ganz abgesehen vom unwägbaren Kriegsverlauf.

Putin selbst behauptete in einer propagandistischen Rede vor Wirtschaftsleuten, Russland habe Deutschland überholt, was die Wirtschaftsleistung betreffe - allerdings nur nach seiner sehr eigenwilligen Berechnung, die nach seinen Angaben eine "Kaufkraftparität" berücksichtigt, die wohl eher seiner Wunschvorstellung entsprang. Die Weltbank führt Russland jedenfalls nach wie vor auf Platz acht, hinter Frankreich, vor Kanada und weit hinter Nationen wie den USA, China, Japan und Deutschland.

"Ausbruch aus der Weltanschauung"

Dass sich Putin bei dieser Gemengelage scheut, eine eigentlich dringend nötige weitere Mobilisierung auf den Weg zu bringen, erscheint nachvollziehbar: Obendrein würde sie seine "Propagandaerzählung" erschüttern, wonach Russland gegen die Ukraine keinen Krieg führt, sondern lediglich eine "Spezialoperation", so das US-Magazin "Newsweek" in einer neuen Analyse. Dort wird der in Chicago lehrende Politologe Konstantin Sonin zitiert, ein gebürtiger Russe: "Das ist es, was den Russen in den Armee- und Polizeiberichten mitgeteilt wird, und das ist die Sprache, in der Putin zu seinen Untergebenen und der breiten Öffentlichkeit spricht. Eine Mobilisierung öffentlich anzukündigen, wäre eine drastische Abkehr von dieser Weltanschauung, fast so, als würde man aus einer solchen Weltanschauung ausbrechen." Eine Massenmobilisierung werde den Russen die "Kosten des Krieges" vor Augen halten, was vor der Wahl gefährlich sei.

Die von "Newsweek" befragten US-Fachleute meinen, dass Russland zwar auch durch eine Mobilisierung von fünf Millionen Soldaten "nicht zerstört" werde, wirtschaftlich allerdings bedeute das "nichts Gutes", wo der Rubel sowieso schon massiv unter Druck geraten sei. Auch militärisch mache eine Mobilisierung allerdings wenig Sinn, argumentiert der russische Oberst Pjotr Schuwalow. Zwar fehle es an der Front "furchtbar an Menschen", aber Rekruten "ohne Motivation" und Ausbildung seien nicht hilfreich. Daher seien alle Gerüchte über weitere Mobilisierungen nur "Horrorgeschichten": "Es ist nicht mehr möglich, eine Mobilmachung mit positivem Ergebnis durchzuführen – der Zug ist abgefahren, und die 'erste Welle' führte uns Fehler vor Augen, die aus Sicht der Armee in keiner Weise korrigiert wurden."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!