Junger Mann der Kosakenabteilung auf der Krim
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Russischer Soldat schaut ins Ungewisse

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"Anarchie am Rand des Hochverrats": Russen kritisieren Armee

Seit ein prominenter Ex-General die "Lügen" der Kommandeure geißelte, ist die russische Militärführung massiv unter Druck geraten. Immer neue Vorwürfe werden laut, sogar von Landesverrat ist die Rede: "Der seltsamste Krieg der Menschheit."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Verantwortlichen der russischen Sicherheitsdienste einschließlich der Armeespitze machen es ihren Landsleuten derzeit nicht gerade leicht: Eine Welle von Kritik und Spott rollt über sie hinweg. Ausgerechnet der Chef des Auslandsgeheimdiensts, Sergej Naryschkin, versetzte Russlands Patrioten in abermalige Aufregung. Er hatte zugegeben, dass seine Leute "im Dialog" mit dem US-Geheimdienst CIA stünden, um "internationale Spannungen" und "Missverständnisse zwischen den beiden Ländern" abzubauen. Prompt fragten sich aufgebrachte Beobachter, was das zu bedeuten haben, wo der russische Außenminister Sergej Lawrow doch von einem "Krieg" zwischen Moskau und Washington gesprochen hatte.

"Für die Urenkel des 22. Jahrhunderts"

"Das ist der seltsamste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Sie scheinen mit uns zu kämpfen, aber dennoch setzen wir uns mit ihnen zusammen", wunderte sich ein Telegramm-Blogger mit 475.000 Fans: "Um nicht in eine unangenehme Situation zu geraten, sollte man nicht zu aufdringlich fragen, warum so seltsame Dinge geschehen." Er wolle "Klarheit", ob Russland nun Krieg führe oder nicht: "Nur für mein Tagebuch für die Urenkel des 22. Jahrhunderts."

Politologe Wladimir Schemjakin schrieb über Naryschkins umstrittene Äußerung: "Logisch. Das Ressortinteresse der Geheimdienste besteht darin, den Konflikt auf dem Niveau zu halten, auf dem ihr vergleichbares Gewicht bei der Konfliktbewältigung im Kräftemessen mit den anderen staatlichen Institutionen wie Armee und Außenministerium am größten ist." Das bezieht sich auf Spekulationen, wonach die Generäle seit Kriegsbeginn hinter den Kulissen mit den Agentenchefs heftig darüber streiten, wer dafür verantwortlich ist, dass der "Blitzkrieg" scheiterte.

"Jeder Angriff wird im Vorhinein bekannt"

Noch wütender gab sich Blogger Igor Skurlatow (325.000 Abonnenten): "Es stellt sich heraus, dass unser Geheimdienstchef anders denkt, wenn es um Russlands Krieg mit der NATO geht, als es unser Außenminister Lawrow zugeben musste. Welche Art von Anarchie steht da am Rande des Hochverrats?" Es sei etwas "faul im Staate Dänemark", munkelte der Kommentator und steigerte sich in eine Verschwörungstheorie: "Einige Punkte deuten darauf hin, dass feindliche Agenten das Verteidigungsministerium und den Generalstab infiltriert haben. Jeder Angriff der russischen Streitkräfte gegen Ziele der ukrainisch-faschistischen Junta wird den Anführern von Selenskyjs Bande im Voraus bekannt. Viele offen verfügbare Daten deuten auf diesen traurigen Fall hin. Was ist mit der militärischen Spionageabwehr? Warum wird kein einziger Verräter öffentlich verurteilt?"

Mit Blick auf geplante Feierlichkeiten des Kremls zum Jahrestag der "Aufnahme von vier [teilbesetzten] Regionen nach Russland" blaffte Skurlatow: "Ist es nicht zu früh zum Feiern?" Er erwartet vom Kreml "Antworten" auf die Krise an der Front, schließlich müssten Politiker ihr Wort halten, wenn das nicht zu einer bloßen "Redewendung" verkommen solle: "Die letzte Woche der Spezialoperation sollte bei der Führung des Landes wirklich Besorgnis erregen. Aber offenbar ist das nicht der Fall."

"Wir müssen stürmen, was uns bereits gehörte"

Unterdessen geht der Streit um angebliche "Lügen" in der Armee in immer neue Runden. Der Ex-General und jetzige Politiker Andrej Guruljow hatte öffentlich bedauert, dass aus dem Kampfgeschehen ständig falsche Daten geliefert würden, auch vom genauen Frontverlauf, was prompt zu Fehlentscheidungen führe. Das sei das Hauptproblem der Generäle. Letztlich umschrieb Guruljow damit allerdings nur den sprichwörtlichen "Nebel des Kriegs" (Fog of War), der jede Strategie erschwert. Schon der berühmte preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz hatte in seinem 1832 erschienen Bestseller "Vom Kriege" beobachtet: "Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit. Drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit "

Für diese wenig überraschende Unübersichtlichkeit an der rund 1.000 Kilometer langen Front suchte Guruljow offenbar nach "Schuldigen". Sogar im Fernsehen wiederholte der Ex-General seine massive Kritik. Inzwischen wird sie quer durch das russische Netz geteilt, sogar von den bekanntesten TV-Propagandisten wie Alexander Sladkow (1,1 Millionen Fans): "Es kommt vor, dass es eine Personalrotation gibt, ein Bataillon ein anderes an der Front ablöst, und dabei stellt sich heraus, dass der scheidende Bataillonskommandeur sechs Monate lang berichtet hat, dass der Waldgürtel von seinen Leuten besetzt ist, das Gebiet aber tatsächlich vom Feind gehalten wird. Und wir müssen plötzlich erstürmen, was den bisherigen Berichten zufolge bereits uns gehörte."

15 Jahre Haft für "Lügen"?

Sladkow behauptete, sogar Putin persönlich telefoniere ab und an mit Brigadekommandeuren, um sich einen Überblick zu verschaffen. Auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu schalte sich immer wieder ein: "Und selbst in dieser Situation gelingt es den Kommandeuren, ungenaue Angaben zu machen. Wie kann man diesem Unglück entgehen?" Es gebe zwei Möglichkeiten, so der Propagandist. Einerseits müsse "moralischer" Druck aufgebaut werden, wonach Lügen eine "beschissene, inakzeptable Gewohnheit" seien. Wirksamer seien jedoch Strafen: Er schlägt bei nachgewiesenen Falschmeldungen oder dem absichtlichen "Verschweigen von Informationen" 15 Jahre Haft vor.

Originell ist der Diskussionsbeitrag eines russischen Militärbloggers, der Einsatz elektronischer Kampfführungs- und Kontrollsysteme wie "Andromeda", "Acacia" oder "Constellation" könne den Kommandeuren zwar in Echtzeit die genauen Standorte der Truppen übermitteln, aber auch dabei gebe es ein gravierendes Problem, nämlich die "totale Abwesenheit von Lügen". Mit anderen Worten: Hacker könnten diese Software kapern und sich dadurch einen genauen Überblick über die Schlachtordnung verschaffen: "Wir sind in diesen Fragen ziemlich spät dran."

"Hat er sich dafür ausgepeitscht?"

Generäle hätten offenbar deshalb einen Kopf, damit sie eine Uniformmütze tragen könnten, höhnte ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka", wo sich mehr als 100, meist boshafte Kommentare mit der "Lügen"-Debatte beschäftigen: "Wie oft war der Abgeordnete Andrej Guruljow auf den Schlachtfeldern des nördlichen Militärbezirks, bevor er erklärte: 'Vom Sieg trennt uns lediglich ein ernstes Problem: Lügen'?" Ein weiterer Kommentator fragte sich und andere: "Waren es nicht die Abgeordneten der Staatsduma, die Gesetze zur Militärzensur verabschiedet haben, nach denen jeder zum Kriminellen erklärt wird, der etwas anderes als die Informationen des Verteidigungsministeriums weiterträgt? Hat er sich dafür ausgepeitscht?"

Es wurde darauf verwiesen, das ausgerechnet Guruljow an der Absetzung seines Generalskollegen Iwan Popow im vergangenen Juli beteiligt war, der sehr lautstark und öffentlich die Armeespitze für ihr Versagen kritisiert hatte: "Das heißt, wenn alle Militärführer und ähnliche Verantwortliche plötzlich anfangen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, wird die Russische Föderation sofort gewinnen? Lustiger General!" Bisher habe Russland nur unter zwei Gebrechen gelitten, bezog sich ein Leser auf ein altes russisches Sprichwort: Seine Narren und seine Straßen. Mit den Lügen sei jetzt offenbar eine dritte Schwäche publik geworden.

"Anscheinend liegt die Ursache woanders"

Mutige folgerten aus Guruljows Kritik an Lügen, er stelle damit die "Grundlagen der Machterhaltung" in Russland in Frage. Andere wollten wissen "wessen Lügen genau" das Land vom Sieg abhielten, etwa diejenigen der TV-Propagandisten? "Lügen ist natürlich eine Katastrophe, aber wenn alles von Anfang an richtig geplant worden wäre, gäbe es keinen Grund zu lügen", analysierte jemand und zog das Fazit: "Anscheinend liegt die Ursache hier woanders." Witzig die Bemerkung, es lohne sich in Russland derzeit, in der Nähe von "Dampfplauderern" zu bleiben: "In ihrer Nähe ist die Luft steril."

"Ohne Lügen hätte der Krieg gar nicht begonnen"

Guruljow wurde als staatstragender Abgeordneter für seine Attitüde, die "Wahrheit" zu fordern, satirisch mit einem gealterten Hofschranzen verglichen: "Eure Majestät! Sie wissen, dass ich ein ehrlicher alter Mann bin, ein unverfälschter alter Mann. Ich sage die Wahrheit direkt ins Gesicht, auch wenn sie unangenehm ist. Lassen Sie mich es Ihnen unvermittelt, grob und auf die Art eines alten Mannes sagen: Sie sind großartig, Sir! Verzeihen Sie mir meine Zügellosigkeit – Sie sind ein geistiger Riese! Eine Koryphäe!"

Es sei in Russland wirklich schwer, wenn sich am Morgen niemand mehr daran erinnere, was am Vorabend gewesen sei, hieß es ironisch mit Blick auf den Alkoholkonsum im Militär: "Ein Kater am Morgen ist aber nicht so schlimm wie Damenschuhe der Größe 44 unter dem Bett!" Und ein ernsthafter Leser fasste die ganze Debatte in den wenigen Worten zusammen: "Ohne Lügen hätte der Krieg gar nicht erst begonnen!"

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