Der Opernmacher mit einem Redemanuskript in der Hand
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Intendant Wladimir Urin bei Saisoneröffnung

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Bolschoi-Theaterchef über Zensur: "Publikum wurde energischer"

Intendant Wladimir Urin gilt als Liberaler und musste sich zu Beginn von Putins Angriffskrieg deswegen heftige Kritik gefallen lassen. Jetzt wurde er vorsichtiger: "Die Gesellschaft ist polarisiert. Nicht selten sind die Menschen aufrichtig empört."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

In "Einzelfällen" beschäftigt das Moskauer Bolschoi-Theater nach Angaben des Intendanten auch heute noch Künstler aus dem Westen, allerdings stünden die unter "enormem Druck". Daher bäten sie manchmal noch "im letzten Moment" darum, ihre Namen nicht zu veröffentlichen, so Wladimir Urin in einem Interview mit der Zeitung "Rossijskaja Gazeta". Das gelte besonders für Choreographen.

Der im niedersächsischen Gehrden geborene Hans-Joachim Frey, inzwischen russischer Staatsbürger, gehört allerdings nicht dazu: Der bekennende Putin-Fan und "Berater" des Theaterchefs wird im kommenden Juli auf der Kammerbühne des Bolschoi Ruggero Leoncavallis Kurzoper "Der Bajazzo" inszenieren, wie es zur Spielzeiteröffnung hieß. Der umtriebige Kulturmanager Frey organisierte früher Opernbälle, darunter auch den Dresdener, wo er 2009 dem damaligen russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin den "St. Georgs-Orden" überreichte, was viel Wirbel verursachte. Am 23. Mai dieses Jahres revanchierte sich Putin bei seinem Gefolgsmann und verlieh Frey den "Orden der Freundschaft", worauf sich der Geehrte mit dem Satz bedankte, er stehe auf der Seite Russlands.

"Welle empörter Briefe und andere Äußerungen"

Von Frey abgesehen, machen sich ausländische Künstler in Moskau allerdings rar. Kein Wunder, bei den politischen nUmständen, die Intendant Wladimir Urin andeutete. So räumte er ein, dass einige Regisseure sogar "recht emotional" die Aufzeichnung ihrer Inszenierungen verlangten, um überprüfen zu können, wie sehr das Theater ihre Arbeiten zensiert. Die angebliche Antwort von Urin: "Schauen Sie sich den Vertrag an, Sie haben keinen Grund, eine Videofassung des Stücks zu verlangen."

Ungewöhnlich offen gab Urin zu, dass Kriegsgegner systematisch ausgegrenzt werden: "Als bestimmte Künstler unserer Aufführungen sehr deutlich über die Sonderaktion sprachen, verschwanden ihre Namen von den Plakaten. Hier gibt es noch einen weiteren sehr wichtigen Punkt, wichtig in dem Sinne, dass es für das Thema eine erhöhte Aufmerksamkeit gibt. Es ist wohl nachvollziehbar, dass es zu einer gewissen Welle empörter Briefe und anderer Äußerungen kam. Unter solchen Umständen verstehen das Theater und das Kulturministerium sehr gut, was solche schwerwiegenden negativen Reaktionen hervorruft. Das war auch der Grund für die Streichung bestimmter Aufführungen aus dem Repertoire."

"Menschen wollen ihre Emotionen loswerden"

Das ist eine Umschreibung des wachsenden Drucks seitens des Regimes, aber auch aus den Reihen der Ultranationalisten. Dazu Urin: "Die Gesellschaft ist mittlerweile wirklich polarisiert. Und nicht selten sind die Menschen über die eine oder andere Sache aufrichtig empört. Zwar sind diese Anschuldigungen oft völlig unbegründet. Am Interesse für das Theater und an der Auslastung hat sich nichts geändert. Allerdings ist die Reaktion des Publikums heute eine andere, was die Wahrnehmung von Aufführungen betrifft, selbst jener, an die wir bereits gewöhnt waren und die immer wunderbar aufgenommen wurden. Das ist erstaunlich. Die emotionale Reaktion des Publikums hat sich völlig verändert, wurde energischer. Menschen haben das Bedürfnis, ihre Emotionen und Eindrücke loszuwerden."

Über mangelnde Angebote für Tournee-Auftritte könne sich das Bolschoi nicht beklagen, so Urin, der als Stationen den Oman und Schanghai nannte. Auch über einen Stop in Südkorea werde verhandelt. Wirtschaftlich sei das alles jedoch "unrentabel": "Unsere ausländischen Partner verlangen viel und bevorzugen eine Auswahl der beliebtesten Werke."

Seitenhieb gegen Valery Gergiev

Der vorsichtig gewordene Urin leistete sich immerhin einen diskreten Seitenhieb gegen Putins "Musikminister" Valery Gergiev, dem Ex-Chef der Münchner Philharmoniker, dem nachgesagt wird, am liebsten auch das Bolschoi in sein Opern-Imperium einverleiben zu wollen. Kürzlich hatte sich Gergiev darüber ereifert, dass es in russischen Städten wie Smolensk, Nowgorod und Pskow keine Musiktheater gebe, obwohl dort so berühmte Komponisten wie Glinka, Rimsky-Korsakow und Mussorgsky geboren wurden. Salzburg sei kleiner als die Schwarzmeer-Metropole Sotschi und schaffe es, Mozart zu ehren, das müsse auch in russischen Geburtsstädten berühmter Tonsetzer möglich sein: "Es muss etwas dagegen getan werden, dass es in einem Land wie Russland, der Heimat der größten Musiker, noch immer zu wenig Opernhäuser gibt. Lassen Sie sie bescheiden sein, Hauptsache, sie existieren."

Bolschoi-Chef Urin setzte andere Prioritäten. Gefragt, ob "jede russische Stadt" eine Oper haben sollte, antwortete er: "Nein. Die Oper ist eine, wie man so schön sagt, bürgerliche Kunstform. Es gibt klare soziologische Studien, die nicht nur Russland, sondern praktisch die ganze Welt betreffen. Sie bezeugen: Der Prozentsatz der Menschen, die Musiktheater besuchen, ist viel geringer als der Prozentsatz derjenigen, die sich für das Schauspiel entscheiden, und man muss ehrlich zugeben, dass dieser Anteil an der Gesamtbevölkerung gering ist. Daher ist es wichtig, klar zu verstehen, dass diese Art von Theatern den Hauptstädten und großen Ballungsräumen vorbehalten bleiben sollte."

"Bleiben Sie anständig"

Urin hoffte bei seinen Mitarbeitern auf "Verständnis dafür, dass heute keine einfache Zeit" sei: "Sie muss gemeinsam mit dem Land durchgemacht werden. Und geben Sie Ihr Bestes, egal was passiert, um anständige Menschen zu bleiben und ehrlich und nach besten Kräften Ihren Job zu machen. Denn das Leben geht weiter." Nur mit Humor und Lebensfreude sei das alles auszuhalten: "Da mein Leben im Theater schon recht lange währt, habe ich verschiedene Abschnitte erlebt, darunter auch sehr schwierige. Als zu Sowjetzeiten die staatlichen Subventionen stark reduziert wurden, als alles reguliert wurde. Ich erinnere mich auch an die ideologisch schwierigen Zeiten, als ich zum Kulturministerium ging, um Arbeitspläne genehmigen zu lassen und sie mir sagten, was umgesetzt werden könne und was nicht."

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