Der Politiker bei der Besichtigung einer Hubschrauberfabrik am 15. September 2023
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Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigu

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Russischer General warnt: "Wir haben ein ernstes Problem: Lügen"

Der russische Ex-General und Parlamentsabgeordnete Andrej Guruljow warnt vor "Falschmeldungen auf vielen Ebenen" und hält die Lage an der Front für alarmierend: "Lasst uns das einsehen, sonst wird es Ärger geben."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Normalerweise fällt Andrej Guruljow unter den Propagandisten Putins nicht weiter auf, rühmt er doch im russischen Fernsehen regelmäßig die Entscheidungen des Kremls und schwärmt dort von den angeblichen Erfolgen an der Front. Doch jetzt sorgte der 55-Jährige für Verwunderung unter seinen Gesinnungsgenossen. In einem längeren Eintrag seines Telegramm-Blogs präsentierte er "systematische Schlussfolgerungen" aus der militärischen Lage, deren Basis Informationen "aus erster Hand" sein sollen.

Die Ukraine habe ihre Kampftaktik geändert: So setze sie deutlich weniger gepanzerte Fahrzeuge ein und lasse die Infanterie im Schutz von Drohnen und Artillerie vorrücken: "Ja, das zwingt unsere Truppen zu einem gravierenden Rückzug. Nicht weit, aber mancherorts verloren sie bis zu 10 Kilometer Territorium. Der Feind hat hier und da unsere Verteidigungsstellungen besetzt, die wir mit unseren eigenen Händen sehr gut ausgerüstet hatten."

"Effizienz der Hubschrauber hat nachgelassen"

Die Ukraine habe die russischen Verteidigungslinien punktuell durchbrochen, so der Ex-General, und dafür gesorgt, dass die russischen Hubschrauber keine Panzerabwehrraketen mehr einsetzen könnten, weil sie zu anfällig geworden seien für direkten Beschuss vom Boden: "Die Effizienz unserer Hubschrauber hat nachgelassen."

Außerdem sei die Ukraine "sehr kompetent" beim Räumen von Minenfeldern. Obendrein habe deren Artillerie eine deutlich größere Reichweite als die russische, deshalb seien feindliche Geschütze nicht erreichbar. Fest installierte Kanonen seien ohnehin fast alle beseitigt, und mit der mobilen ukrainischen Artillerie habe Russland ein Problem: "Unsere Leute sagen, dass es sehr schwierig, ja fast unmöglich ist, sie auszuschalten, nach dem zweiten Schuss bewegen sie sich und ändern ihre Position."

"Sonst wird es Ärger geben"

Ukrainische Drohnen seien so zahlreich und effektiv, dass sie nicht nur direkt an der Front, sondern auch im Hinterland viel Schaden anrichteten. Das Fazit von Guruljow: "Der Krieg geht weiter. Ja, wir sind stärker, unsere Krieger sind stärker und mutiger, unsere Truppen sind professioneller. Wir halten durch, wir passen uns an, wir gewinnen, wir haben bereits einen Großteil der Arbeitskräfte des Feindes beseitigt. Wir werden auf jeden Fall gewinnen, aber vom Sieg trennt uns ein ernstzunehmendes Problem: Lügen."

"Das ist der entscheidende Punkt"

Zwar gebe es inzwischen weniger Lügen als zu Beginn des Feldzugs, aber sie seien keineswegs verschwunden. Darüber werde in der Truppe gesprochen: "Falschmeldungen führen leider auf vielen Ebenen zu schlechten Entscheidungen. Das ist nun mal so, lasst es uns einsehen und dagegen ankämpfen, sonst wird es Ärger geben."

Von dem Ansturm von Kommentaren zeigte sich der Ex-General so angespornt, dass er nachlegte: "In unseren Berichten stimmen oft nicht einmal die Angaben zur vordersten Frontlinie mit den tatsächlichen überein." Durch die "Verzerrung der Ausgangsdaten für die Entscheidungsfindung" seien Lösungsansätze zwangsläufig "schräg": "Das ist der entscheidende Punkt." Das Echo auf diese Äußerungen war so gewaltig, dass der Ex-General nach eigener Aussage schon mehr als 5.000 Telegramm-Hasskommentatoren "sperren" musste.

"Feind hat unendlich viel Nerven"

Überraschenderweise sieht es der Militärkorrespondent der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, Alexander Tschartschenko, genauso. Auch er fällt sonst mit betont propagandistischen Jubelberichten auf. Jetzt gab er sich zerknirscht: "Kürzlich behaupteten mehrere Sender, an der Front sei es ruhiger geworden und die Ukrainer seien erschöpft. Leider ist es nicht so. Der Feind stürmt weiterhin mit manischer Beharrlichkeit unsere Stellungen. Der Gegner verfügt über eine tatsächlich unbegrenzte Anzahl an Infanterie." Den russischen Truppen sei es "leider" im Sommer nicht gelungen, auch nur eine einzige ukrainische Einheit einzukesseln.

Düster prophezeite Tschartschenko, dass die Ukraine die russische Luftüberlegenheit nach und nach ausschalten werde: "Der Feind hat unendlich viel Zeit und Nerven." Seine aktuelle Analyse beendet der Korrespondent mit einer Art "Pfeifen im Walde" und schreibt: "Wir werden trotzdem gewinnen, es geht einfach nicht anders. Zumindest glaubt man das an der Front."

Ein Blogger mit knapp 500.000 Followern schrieb zu Guruljows Alarmruf spöttisch: "Ein beliebtes russisches Sprichwort besagt: Wenn die Offiziellen anfangen, sich über Lügen zu beklagen, naht die Zeit für 'schwierige Entscheidungen'." Ein Netzkollege meinte, der Platz des "Wahrheitspredigers" an der Front sei nach dem Tod von Söldnerführer Prigoschin jetzt offenbar neu besetzt: Mit dem Ex-General.

"Wir müssen große Verluste zugeben"

Blogger Andrej Medwedew (170.000 Fans, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten) sprach von einer "sehr unerwarteten Argumentation" des Ex-Generals: "Ich weiß nicht, warum der sonst in seinen Einschätzungen zurückhaltende General dieses Mal plötzlich von Schwierigkeiten berichtet. Und natürlich gibt es sie. Es ist bereits klar, dass die Offensive der ukrainischen Streitkräfte auch mit dem Einsetzen des Herbstregens nicht aufhören wird. Und es ist noch verfrüht zu glauben, dass die Offensive völlig ins Stocken geraten ist. Das scheint auch für General Guruljow offensichtlich."

Blogger Anton Orech wunderte sich mit ironischem Unterton: "Das heißt, manche Leute lügen ohne rot zu werden, während andere wegen Fälschungen über die Armee ins Gefängnis kommen?" Ein weiterer Telegramm-Kommentator mit 120.000 Followern meint: "General Guruljow geht hart und offen mit der Lage an der Front ins Gericht. Die ukrainischen Streitkräfte stürmen ungeachtet ihrer Verluste vorwärts. Und wir müssen zugeben, dass wir in diesem Fleischwolf auch große Verluste erleiden. Abnutzungskrieg ist die neue US-Strategie im Krieg gegen Russland. Und nur, wenn wir die Initiative ergreifen, kann unsere starke Offensive diesen Plan durchkreuzen."

"Bienen zeigen uns, wer der Boss ist"

Gut informierte Militärexperten wie der frühere Staatssicherheitschef der Donbass-Region, Alexander Chodakowski, warnen seit längerem vor einer Fehleinschätzung der aktuellen Situation: "Es war, als würden wir unsere Hand in den Bienenstock stecken, um Honig zu holen, aber die Bienen waren nicht unserer Meinung und beschlossen, zu zeigen, wer der Boss ist." Chodakowski hielt es für wenig plausibel, die russischen Fehlschläge auf die massive Unterstützung der Ukraine durch den Westen zu schieben.

"Wenn wir uns anfangs mit der Ukraine näher beschäftigt hätten, wären wir trotz der Anfangsschwierigkeiten mit ihr schon fertig, denn objektiv gesehen hatte sie zu Beginn bereits alles aufgebraucht, was sie hatte", so der Blogger. Russland habe sich jedoch gehörig verkalkuliert und dem Westen genug Zeit gegeben, einzugreifen. Die hohe Motivation der Ukrainer erklärte sich der Putin-Fan mit einem grotesk anmutendem Argument: "Wenn wir davon ausgehen, dass Russland ein Glaube ist, dann ist die Ukraine ein Aberglaube. Aberglaube ist unglaublich ansteckend, klebrig, hartnäckig."

"Dias aus der Vorkriegszeit"

Bei den "Zwei Majoren" mit 430.000 Abonnenten heißt es: "Wenn 'alles in Ordnung ist', besteht keine Notwendigkeit, etwas zu ändern. Aber es gibt immer mehr Einschläge entlang der Grenze, es gibt nicht weniger Drohnen, und viele der Mobilisierten haben noch nie Urlaub gesehen und daran wird sich auch nichts ändern. Das Land wird eingelullt, indem man die Morgenberichte der Generäle im Fernsehen mit der realen Lage an der Front verwechselt. Wieder einmal fallen wir auf den immer gleichen Köder unserer Medien herein."

Die "alten Führungskräfte" der mittleren Ebene sollten endlich in Rente gehen, weil sie dem "Tempo des Lebens" nicht mehr gewachsen seien, heißt es in der Abrechnung: "Die Tatsache, dass Ihre 'Arbeit' das Top-Management zufriedenstellt, bedeutet nicht, dass sie angesichts der äußeren Aggression von fünfzig NATO-Ländern ausreichend ist. Opas in mittleren Positionen sitzen an den Hebeln, arbeiten an ihrer eigenen Bedeutung, zeigen Dias aus der Vorkriegszeit." Die Fixierung auf "Quartalsberichte" würge die "Initiative von unten" ab.

"Niemand gibt eine Antwort"

Ebenfalls bei den "Zwei Majoren" war ein Text zu lesen, der angeblich von einem "Kadetten L." von der Front eingesandt wurde. Er fragt nach dem eigentlichen Ziel von Putins Angriffskrieg: "Meine beiden Großväter, die nicht aus dem Krieg zurückkehrten (einer liegt in der Nähe von Charkow, der andere in der Region Smolensk), träumten davon, Berlin zu erreichen. Wo ist das Endziel unserer Spezialoperation? Auf welchem ​​​​Gebäude und in welcher Stadt sollten die Erben von Michail Jegorow und Meliton Kantarija [die das rote Banner 1945 auf dem Dach des zerschossenen Reichstags anbrachten] unser stolzes Trikolore-Banner hissen, um den Befreiungsfeldzug abzuschließen?!"

Diese Frage sei zwar "angebracht und logisch", doch eine klare Zielvorstellung des maximal Erreichbaren gebe es im Kreml anscheinend nicht: "Es scheint eine völlig angemessene und logische Frage zu sein. Aber aus irgendeinem Grund gibt niemand eine Antwort darauf, verstummt bedeutungsvoll und richtet den Blick nach oben."

Putin scheut weitere Mobilisierung

Der Kreml beteuert ständig, mit angeblich rund 300.000 Freiwilligen hätten sich mehr als genug Männer für die Front gemeldet, doch Militärblogger und Nationalisten drängen aufgrund der "schwierigen" Lage vernehmlich auf eine weitere Mobilisierung. Die scheut Putin wegen der im März bevorstehenden Präsidentenwahl, könnte eine weitere Mobilisierungswelle doch abermals zu unschönen Szenen von massenhaft ausreisenden Russen führen, die sich auf Fahrrädern und zu Fuß über Gebirgspässe in Sicherheit bringen. Das war bei der ersten Mobilisierung der Fall, vor allem Richtung Georgien und Kasachstan.

"Natürlich ist Personalrotation erforderlich"

Was die "Lügen" betrifft, gibt es auch bei der Mobilisierung Diskussionsbedarf: Der Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des russischen Parlaments, Andrej Kartapolow, stellte überraschend klar, dass alle Mobilisierten erst nach Kriegsende nach Hause zurückkehren könnten. Für jedes halbe Dienstjahr sei allerdings Urlaub vorgesehen. Der Gouverneur der Region Leningrad, Alexander Drosdenko, verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Mobilisierung nach den Versprechungen des Verteidigungsministeriums ursprünglich nur insgesamt sechs Monate dauern sollte, jetzt seien es schon elf: "Natürlich ist eine Personalrotation erforderlich." Dazu Ex-General Guruljow: "Wenn der Gouverneur eine Rotation fordert, zu welchem ​​Preis? Es wird definitiv keine neue Mobilisierung geben, es werden nur noch Freiwillige angeheuert." Eine weitere Mobilisierung sei "ineffektiv" und bringe die Wirtschaft um dringend benötigte Arbeitskräfte.

Putin: "Höchste patriotische Erwägungen"

Derweil sorgte der russische Präsident mit seiner Wahrnehmung der militärischen Lage einmal mehr für Verwunderung. Bei einem Treffen mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko sagte er laut staatlicher Nachrichtenagentur TASS über die russischen Freiwilligen: "Ja, wir zahlen ihnen etwas Geld, und das ist natürlich mehr – viel mehr – als der Durchschnittsverdienst hierzulande, aber ist es möglich, die Gefahr von Tod oder schwerer Verletzung mit ein bisschen Geld wettzumachen? Natürlich nicht. Vor allem: Unsere Männer, die diese Verträge abschließen, lassen sich von höchsten patriotischen Erwägungen leiten. Das allein erweckt Respekt." Das Gerücht, Russland werbe wegen personeller Engpässe um nordkoreanische Soldaten, bezeichnete Putin als "völligen Unsinn".

Wie die Lage jenseits der vielfach bedauerten "Lügen" ist, zeigen Videos russischer Mobilisierter, die sich über irrsinnige Befehle, mangelnde Ausrüstung und Erschöpfung beschweren: Anders als ukrainische Frontkämpfer wurden viele russische seit Monaten nicht ausgetauscht.

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