Schaufenster eines Pelzgeschäfts in der Wiener Leopoldstadt, aufgenommen im Jahr 2020
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Sah es so aus, das Timmsche Pelzgeschäft? Hier ein Schaufenster in der Wiener Leopoldstadt, aufgenommen im Jahr 2020

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"Alle meine Geister" von Uwe Timm: Alles begann mit den Pelzen

Günter Grass begann sein Berufsleben bei einem Steinmetz, Herta Müller lehnte die Lehrstelle als Schneiderin ab. Und Uwe Timm? Der war "Kürschner", Pelz-Handwerker, wie er im neuen Buch erzählt: "Alle meine Geister", die Erinnerungen eines Autors.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Sortieren ist Teil des Kürschner-Handwerks. Nach Pelzen, Farbe, Locke, Glanz. Und der Kürschner-Lehrling Uwe Timm liebte diese Aufgabe, auch der Spielräume wegen, die sich da boten, ein ruhiges Tun, schreibt er, "das dem Tagträumen Raum ließ". Es sei ein paradiesischer Zustand gewesen, allein im Sortierzimmer, und immer ein Buch dabei, so erzählt er im Büchermagazin Diwan auf Bayern 2.

Uwe Timm ist zu Ruhm gekommen als der Schriftsteller, der in vielen Romanen die Entwicklung der Bundesrepublik eingefangen hat. In "Alle meine Geister" schaut er zurück auf seine eigenen Anfänge, die Zeit nach dem Krieg, die Ausbildung und die Bücher, die er nicht nur im Sortierzimmer las – bis klar war, dass er das Abitur nachmachen würde: die Lehr- und Wanderjahre des Uwe Timm.

Sieh an: Der Schriftsteller war mal Kürschner

Dass die Kürschnerei zum Beruf werden soll, ergibt sich aus dem väterlichen Pelz-Geschäft, das später fast pleitegehen wird. Vom Schreiben ist der 15-, 16-jährige Timm da noch weit entfernt. Von den Geschichten, die er später erzählen wird, nicht. Er muss alles aufgesogen haben, die Begegnungen mit dem träumerischen Kürschnermeister Johnny-Look oder mit dem gut bezahlten Anarchisten Patkuhl zum Beispiel, oder die Kundinnen, die Pelzträgerinnen, die nicht nur in ihre Mäntel, sondern auch in ihre Schicksale gehüllt waren.

Alle hatten sie mit dem Krieg zu tun und dem Vorher, das ja noch nicht lange vorbei war. Den Titel, sagt Uwe Timm, habe er gleich gewusst: "'Alle meine Geister' bezeichnet Menschen, die mir begegnet sind, und die ich beschrieben habe, wie sie für mich von Bedeutung sind. Und zugleich sind es eben immer auch die Bücher. Jeder, der ein Buch liest, hat eine eigene Vorstellung derjenigen, die beschrieben sind."

Den Titel, sagt Timm, habe er gleich gewusst

Die Lektüren des Erwachsenwerdens seien chaotisch gewesen, meint er – aber von zentraler Bedeutung: Benn, Salinger, Dostojewski, Miller, schließlich Camus. Timm stellt seine Erinnerung an die Leseerfahrung des Teenagers und jungen Mannes dem Wiederlesen der Texte heute gegenüber, destilliert ihre, die ganze Biografie mittragende Wirkung heraus. Wichtig ist dabei, wer das Buch empfohlen hat, ein Freund, ein Lehrer, ein Kollege: "Die entscheidenden Bücher kommen von besonderen Menschen."

Es gibt ein paar ganz wenige Stellen, da schwächelt die Erinnerung, und ein Name lässt sich nicht fassen, oder das Schicksal einer Person ist verflogen. Das schreibt der Autor dann auch so, bedauernd. Egal – Chapeau vor dem phänomenalen Gedächtnis des 1940 Geborenen. Nie hat man den Eindruck, dass es um "Namedropping" geht, die Einzelheiten gehören zur Sorgfalt und Genauigkeit des Schreibens, so wie schon damals, als das Kürschner-Handwerk zu erlernen war.

Pelzhandel – das klingt heute anders als damals

Auch von dem ist in vielen Details die Rede, mit Liebe und Respekt gegenüber der erlernten, fast schon ausgestorbenen Kunst – und mit den Skrupeln, die für uns heute selbstverständlich zum Thema Pelz gehören, die in eine Nachkriegskürschner-Familie aber erst eindringen, teils langsam, teils schockartig. Im Detail spiegelt sich Gesellschaftsgeschichte.

"Alle meine Geister" versammelt nicht Anekdoten, auch wenn es sich zunächst so anlässt – es beschreibt das Entstehen eines Blicks auf die Welt. Der Uwe Timm, der später Erzähler und Akteur der 68er-Bewegung ist, derjenige, dessen unterstellter Anarchismus Buchhändler und Goethe-Instituts-Leiter beunruhigen wird, der das Skandalon des Kolonialismus in "Morenga" aufgreift, lange bevor es zum Salonthema wird – der blickt hier mit offenen Augen in eine erschütterte Nachkriegsgesellschaft. In seinem berühmtesten Buch, "Die Erfindung der Currywurst", wird sie wiederzufinden sein.

Wirklich anrührende Leseerfahrung

Noch ist er sehr schüchtern, beobachtend, zuvorkommend, zurückhaltend, "über Jahre" nur Cola trinkend, heißt es, "während um mich herum ausgiebig Bier, Wein und Korn konsumiert wurden". Er rettet Ende der 1950er Jahre das überschuldete Familienunternehmen, rettet sich ins Lernen und in ein nachgeholtes Abitur, das ihm schließlich das Studieren, die Philosophie und das Schreiben öffnen wird.

In "Alle meine Geister" führt er beide Zeiten zusammen, die mit dem Schriftsteller-Blick zurück, die mit dem ungewissen jungen Blick nach vorn. Zusammen ergibt das den Bildungs- und Emanzipationsroman des Uwe Timm. Der nun die nächsten Kreise ziehen kann – als wirklich anrührende Leseerfahrung.

"Alle meine Geister" ist erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch und kostet 25 Euro.

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