Özge İnans erster Roman heißt  "Natürlich kann man hier nicht leben"
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"Natürlich kann man hier nicht leben" ist das Romandebüt von Özge İnan.

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Erster Roman von Özge İnan: Das "Hier kann man leben"-Gefühl

Mit ihrem Debütroman "Natürlich kann man hier nicht leben" beschreibt Özge İnan eine oftmals übersehene Form der Migration aus der Türkei: die aus politischen Gründen Geflüchteten.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Es ist 2013. Nilay sieht in ihrem Berliner Wohnzimmer die Bilder aus Istanbul, von den Gezi-Protesten. Demonstrationen, die sich ursprünglich gegen ein Bauprojekt in der Metropole richteten und sich dann zu einem politischen Aufruhr in der gesamten Türkei ausweiteten.

Nilay kann die Szenerien vor ihren Augen nicht fassen. Als Kind türkischer Einwanderer und Teil der sogenannten postmigrantischen Generation erlebt sie ihr politisches Erwachen. Sie will am Bosporus sein, sich mit den Menschen auf den Straßen solidarisieren, mit Gleichgesinnten für ein Ende des bereits zehn Jahre andauernden autoritären Erdogan-Regimes protestieren. Daher ist es unfassbar für sie, wie apathisch ihre Eltern ebendiese Bilder wahrnehmen.

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Die Gezi-Proteste begannen im Mai 2013 mit Demonstrationen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks.

Die ersten Seiten des Buches "Natürlich kann man hier nicht leben" werden von Nilays Frust beherrscht. Ihre Aufbruchsstimmung stößt im fernen Deutschland auf die Resignation der Alten. Dabei treibt sie eine Euphorie um, die auch Özge İnan damals hatte.

Die Autorin hätte sich in einer idealen Welt gewünscht, dabei sein zu können, sagt sie. Denn man könne sich das heute gar nicht vorstellen, wenn man sich die heutige Türkei anschaue. "Das war wirklich ein revolutionärer Moment. Es hat sich angefühlt, als ob das Regime kurz davor ist, zu fallen. Und bei diesem 'Was danach kommt' will man ja gerade mit 16 unbedingt dabei sein."

Der eigentliche Plot beginnt in den 1980er-Jahren

Für die Eltern der Romanfigur Nilay, Selim und Hülya, schreiben sich die Gezi-Proteste nur in die Kontinuität politischer Unruhen in der Türkei ein. Nach einer Zeit würden sie verstummen oder zum Verstummen gebracht werden, prognostiziert der Vater. So sei das immer. Und viel mehr ist es nicht, was der Leser aus dem Jahre 2013 mitkriegt. Das Buch macht einen Sprung zurück ins Jahr 1980; der eigentliche Plot beginnt und wird sich bis in die 90er-Jahre ziehen.

Denn die abgestumpfte Art der Eltern ist die Summe all ihrer eigenen Erfahrungen von politischem Widerstand, Rückschlägen und Ängsten aus ihrem früheren Leben. Der Buchtitel "Natürlich kann man hier nicht leben" bezieht sich nicht auf Deutschland, sondern auf die Türkei. Freiwillig wären Selim und Hülya niemals auf dieser Couch in Berlin gelandet. Es ist der 12. September 1980 für sie, der alles verändert. Es kommt zum dritten Militärputsch in der Türkei.

Viele Hintergründe, aber kein Sachbuch

Kapitelweise arbeitet sich Özge İnan an den einprägsamsten, von Repression gezeichneten Einschnitten in Selim und Hülyas Leben ab. Selim wächst als einer auf, der Marx liest, verbotene Bücher verkauft, für eine Untergrundzeitschrift arbeitet. Hülya schließt sich dem intersektionalen Kampf an und will die ihr als Frau zugeschriebene Rolle nicht dulden. Mit einer Aneinanderreihung aus Anekdoten lässt die 1997 geborene Autorin den Leser die Laufbahn der beiden verfolgen.

"Mir war es wichtig, das Menschsein in seinen ganzen Facetten und das Menschsein in diesem Militärregime darzustellen, wie es eben wirklich stattgefunden hat", sagt İnan. Es gehe darum, "sich die eigene Menschlichkeit zu erhalten und darauf zu bestehen, auf den eigenen Anspruch, an der Gesellschaft teilzunehmen".

Für politisch Aktive ist das Menschsein in dieser Zeit davon geprägt, dass Freunde festgenommen werden oder untertauchen müssen; dass sensible Informationen nicht mal mit den Liebsten ausgetauscht werden können – weil sie es am Ende sind, die einen verraten. Und dass Andersdenkende mit Terrorpropaganda indoktriniert und zum Verhör vorgeladen werden.

Schnell erzählt, an einigen Stellen zu schnell

Über selbsternannte Revolutionäre heißt es an einer Stelle ganz nüchtern, die seien sowieso in ein paar Jahren tot. Briefe von abgetauchten Genossen werden mit "PS: Keiner gestorben" signiert. Als Leserin erwartet man in jedem Kapitel einen lauten Knall. Irgendwer tot, verhaftet, verschollen.

İnans Sprache bleibt dabei klar. Sie reduziert auf das Nötigste, was über die Figuren und ihr Umfeld gesagt werden muss. Das treibt den Plot schneller voran, 17 Jahre vergehen auf knapp 200 Seiten. An einigen Stellen vielleicht doch etwas zu schnell. Mit großer Selbstverständlichkeit wird durch die komplizierte, politische Stimmung in der Türkei gerast. Wem diese Zeitspanne eher unvertraut ist, der wird vielleicht bei einigen Begriffen und Gruppierungen, wie den Grauen Wölfen, im Dunkeln tappen. Özge İnan sagt, dass es für sie eine Gratwanderung gewesen sei, zu entscheiden, wie viel sie über diese historische Zeit erklären wolle.

Ich wollte eine Geschichte erzählen über Menschen und ihr Erleben. Deswegen war es mir auch wichtig, an keiner Stelle im Buch in einen Sachbuch-Ton abzugleiten und zu erklären, was die Grauen Wölfe im Genauen wollen. Erstens ist es nicht notwendig, um die Geschichte zu begreifen, die ich erzählen wollte. Zweitens kann man auch mit minimalem Vorwissen darüber, welche politischen Strömungen es allgemein gibt, das schon umreißen. Özge İnan, Autorin

Ein Sachbuch ist "Natürlich kann man hier nicht leben" auf keinen Fall geworden. Der Roman macht eines besonders klar: Wie wenig über Lebensgeschichten wie die von Hülya und Selim in Deutschland bekannt ist und gesprochen wird. Wie viele Intellektuelle und politisch Verfolgte in den 80er und 90er-Jahren Schutz in Deutschland suchen mussten. In der Hoffnung auf ein "Hier kann man leben"-Gefühl. Für sich und den Nachwuchs.

Wer heute apathisch wirken mag, der hat seinen Kampf vielleicht schon längst ausgetragen.

"Natürlich kann man hier nicht leben" von Özge İnan ist bei Piper erschienen.

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