Verschossene Munition in einem zerstörten Haus im Oblast Donezk, Ukraine
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Die ukrainischen Truppen verschießen jeden Tag Unmengen an Munition an der Front.

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Mangelware Munition: "Wir stecken tief in der Sch****"

Nicht nur in der Ukraine ist die Lage militärisch angespannt. Wegen knapper Munition ist auch die europäische Sicherheit in Gefahr. Davor warnt der belgische Top-Militär Marc Thys im Gespräch mit BR24.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Zum "Jahrestag" des Ukraine-Krieges im vergangenen Jahr stand das Land im Fokus der Öffentlichkeit. Nun, zwei Jahre nach Kriegsbeginn, muss die Ukraine um Aufmerksamkeit ringen – es mangelt an Erfolgen, Soldaten und vor allem: Munition.

Schätzungen zufolge bräuchte die Ukraine mindestens zwei Millionen Artilleriegranaten pro Jahr. Deutschland lieferte jüngst 10.000 Schuss – das reicht für zwei Tage. Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) macht Marc Thys, Generalleutnant im Ruhestand und ehemaliger Vice-Chef de la Défense der belgischen Streitkräfte, deutlich, warum die Munitionsknappheit zum Problem für die europäische Sicherheit werden könnte.

BR24: Wie schlimm ist die Lage aktuell wirklich?

Marc Thys: Ich wurde viel zitiert, nachdem ich im belgischen Fernsehen gesagt hatte: Nach ein paar Stunden müssten wir schon Steine werfen. Ich bin dann auch gefragt worden, ob das ein Witz sei, und das ist es in einigen Fällen leider nicht. Gerade bei hochwertiger Munition sind die Bestände extrem niedrig. Für Belgien kann ich die an einer Hand abzählen.

Lieferzeiten "von bis zu sieben Jahren"

BR24: Also muss dringend die Produktion, die Rüstungsindustrie angekurbelt werden, um das Problem zu lösen?

Thys: Sie müssen die Lieferzeiten bedenken: Wenn man heute bestellt, dauert es bei manchen Munitionsarten bis zu sieben Jahren, bis man seine Bestellung erhält. Selbst bei der einfachsten Kleinkalibermunition 5.56, ein Nato-Standard. Wenn wir heute den Vertrag unterzeichnen, dauert es zwölf Monate, bis man seine Munition bekommt.

Das ist also nicht nur für die Ukraine eine extrem große Herausforderung, Munition zu bekommen, um diesen Krieg zu führen, sondern auch für uns. Zum einen, weil wir ja die Ukraine unterstützen. Aber es geht zum anderen auch für die Nato-Staaten darum, ihre Bestände wieder so weit aufzufüllen, wie es die Nato vorschreibt. So weit müssten die Bestände auch wieder aufgefüllt werden für den Fall eines militärischen Konflikts oder eines Krieges.

Da gibt es in der Nato auch deutliche Unterschiede zwischen Skandinavien, dem Baltikum und den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts auf der einen Seite, weil die eine ganz andere Bedrohungswahrnehmung haben, als beim "alten Europa" auf der anderen Seite, also vor allem Deutschland, den Beneluxstaaten, Italien, Spanien. Frankreich als Atommacht mal ausgeklammert.

Im Video: Ukraine-Krieg – Gehen dem Westen die Waffen aus?

"Das ist ein Haufen Arbeit für uns"

BR24: Welche Konsequenz hat diese Munitions- und Waffenknappheit?

Thys: Du kannst sicher sein, dass unsere Gegner, ob sie jetzt in Moskau sitzen oder in Beijing oder sonst wo auf der Welt, sie wissen von der Munitionsknappheit. Sie wissen das. Das Spionieren war schon im Gange, als ich 1977 ins Militär gekommen bin. Sie wissen von dieser Knappheit, und ja nicht nur bei der Munition, sondern auch bei Waffensystemen und Ersatzteilen. Wir stecken da schon tief in der Scheiße. Das ist ein Haufen Arbeit für uns.

Als der Krieg losging, der zweite ja eigentlich 2022, also vor zwei Jahren, habe ich gesagt: Wir haben fünf bis sieben Jahre, um uns ordentlich zusammenzureißen. In den vergangenen zwei Jahren sind Dinge passiert, ja, aber nicht in der Geschwindigkeit oder auf dem Level, auf das ich vor zwei Jahren gehofft hatte. Uns läuft einfach die Zeit davon.

Zurück im Zeitalter der offenen Kriege?

BR24: Es ist doch aber schier unglaublich, dass bei 27 EU-Mitgliedsstaaten Munition und Waffen knapp werden…

Thys: Da stimme ich Ihnen zu 100 Prozent zu, das ist unglaublich. Ich gebe Ihnen aber mal ein Beispiel: Ich bin 1977 zu den belgischen Streitkräften gekommen und mein erster Einsatz war an der innerdeutschen Grenze. Ich war auf der einen Seite, die Volkspolizisten auf der anderen. Damals war Belgien in der Lage, mit dem ersten belgischen Corps, das hauptsächlich in Deutschland stationiert war, innerhalb weniger Tage, sagen wir 72 Stunden, 50.000 Männer und Frauen an der innerdeutschen Grenze einzusetzen. Heute schaffen wir in acht oder zehn Tagen 500. Was die Nato allerdings von uns erwartet, ist, dass wir es in 15 Tagen bzw. in weniger als einem Monat schaffen, 5.000 Leute zu mobilisieren.

Unsere Armeen sind auf Expeditionseinsätze ausgelegt. Das sind kleine Kontingente mit wenig Logistik und sehr geringem Munitionsverbrauch, wenn überhaupt. Und plötzlich befinden wir uns wieder in einer Zeit der offenen Kriege. Bei Expeditionseinsätzen ist kein Teil der Armee, Heer, Luftwaffe, Marine, Cyber, wirklich herausgefordert. Heute sind alle Teile wieder herausgefordert, inklusive Munition, Logistik. Darüber reden wir hier ja. Auch Masse, die wir nicht mehr haben, ist wieder ein Qualitätskriterium.

Ich weiß, Deutschland hatte Ende der 1980er etwa 5.000 Panzer. Heute hat Deutschland zwischen 200 und 300. Ich sage nicht, die Bundeswehr muss wieder zurück zu den 5.000, aber diese Lücke ist schon enorm. Und im Falle eines Konflikts…

Moskau und Beijing "wollen ein Europa unter ihrem Einfluss"

BR24: Wie müssten wir uns denn gegen einen russischen Angriff wappnen?

Thys: Da kommt es ja auf das Szenario an. Das wahrscheinliche Szenario ist nicht, dass russische Panzer auf den Straßen von Brüssel unterwegs sind, das ist auch nicht das Ziel Moskaus oder Beijings. Sie wollen keinen militärischen Sieg, sie wollen einen politischen Sieg, bei dem sie sagen: Europa steht unter unserem Einfluss und sie müssen so handeln, reagieren und tun, wie wir es ihnen sagen.

Und wenn Du das kontern willst, brauchst Du auch ein starkes Militär als Instrument der Macht, neben dem wirtschaftlichen Instrument, einem extrem starken Europa. Aber wenn die Diplomatie und die Wirtschaft als soft power nicht mit genügend hard power gestützt wird, dann ändert sich nichts. Und das ist die große Herausforderung, vor der wir als Europa stehen.

Zum Nachhören: Expertengespräch mit Marc Thys, Generalleutnant a.D.

Ein Mann mit Brille und kurzen grauen Haaren: Es ist der Interviewpartner Marc Thys
Bildrechte: Marc Thys/Egmont – Het Koninklijk Instituut voor Internationale Betrekkingen
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Marc Thys, Generalleutnant a.D. und Aide-de-camp ehrenhalber des Königs der Belgier

Zwei Jahre Krieg: Hat der Westen nichts gelernt?

BR24: Wenn wir reden, warum Rüstungsgüter knapp sind, müssten wir eigentlich fragen, warum sie immer noch knapp sind, denn der Krieg hat vor zwei Jahren begonnen, warum hapert es beim Nachschub?

Thys: Es ist einfach nicht viel passiert industriell. Ich sage nicht, wir müssen auf Kriegswirtschaft umstellen, da bin ich weit von entfernt. Unsere Sicherheitsarchitektur ist stark fragmentiert, das aber sind die Überbleibsel einer Rüstungsindustrie, die uns durch den Kalten Krieg gebracht hat. Wir müssen die Rüstungs- und Verteidigungsindustrie wieder aufpeppen.

Ein Problem sind da nationale Interessen, die uns behindern. Es ist aber auch das Problem, das wir die Rüstungsindustrie wie jede andere Industrie behandeln, also völlig kommerzialisiert. Das heißt, das Risiko liegt komplett bei den Unternehmen. Und das muss sich ändern, dieses Risiko müssen Regierungen, muss die Europäische Union tragen. Das hat auch was mit einem Kulturwandel zu tun, einem Mentalitätswandel.

BR24: Die berühmte "Zeitenwende"...

Thys: Ja, das geht langsam. 2024 und 2025 werden die Jahre werden, in denen der Wandel wirklich stattfinden wird. Aber mit Europa ist es immer so, das Bild, das ich da zeichne: Wenn Du Europa politisch ändern willst, muss das Messer an der Kehle sein und das Blut schon tropfen, dann fangen die Dinge an, sich zu ändern. Ich denke, an diesem Punkt sind wir. Das Geld ist da, aber der echte Wandel muss zwischen den Ohren passieren, die Mentalität.

"Stärke ist kein schmutziges Wort"

BR24: Kanzler Olaf Scholz hat gesagt, ohne Sicherheit ist alles Nichts. Wenn das stimmt, muss alles, was die vergangenen drei, vier Jahrzehnte gedacht wurde, auf den Prüfstand, dass es einen immerwährenden Frieden gibt, der nichts kostet.

Thys: Stärke ist kein schmutziges Wort. Wir müssen wieder lernen, die Sprache der Stärke zu sprechen. Ich habe mal die Frage gestellt bekommen: Was ist Europas größte Bedrohung? Ich habe gesagt, der Fakt, dass wir naiv und arrogant sind. Naiv, weil wir glauben, dass alle so wie wir denken, und arrogant, weil wir glauben, dass alle so denken müssen wie wir. Und das wird nicht mehr akzeptiert, das hat Putin bereits 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich gemacht. Die eine Welt, in der wir leben, ist herausgefordert. Der Ukraine-Krieg ist nur eine Episode dieser Herausforderung. Was in der Sahel-Region passiert, was in Gaza passiert, was im Roten Meer passiert, das sind alles Episoden des gleichen Films. Und das müssen wir begreifen.

Wieso leben wir in Wohlstand? Weil wir in einer sicheren Welt gelebt haben. Es ist nicht umgekehrt; wir sind nicht sicher, weil wir in einer reichen Welt leben. Als erstes müssen wir über Sicherheit nachdenken. Und Sicherheit kostet etwas. Das müssen wir wieder lernen. Viele haben geglaubt, das ist vom Himmel herabgefallen und wird sich nie ändern.

Aber wir leben ja in einer Anomalie der Geschichte. Niemals in der Geschichte, der Geschichte der Menschheit gab es eine Gesellschaft, die so lange wie die unsere in Sicherheit und Wohlstand gelebt hat. Niemals in der Menschheitsgeschichte. Gleichzeitig merke ich, dass wir nicht bereit sind, das zu verteidigen. Das ist der Weckruf, den wir als Gesellschaft erhalten.

Und dieses Gefühl der Angst, das sich in der Gesellschaft breitmacht, das kommt nicht, weil wir etwas fürchten, sondern weil wir uns bewusstwerden, dass Frieden nicht geschenkt ist. Für Frieden musst Du arbeiten. Ein starkes Militär als Instrument der Macht zu haben, neben all den anderen Machtinstrumenten, ist eine Notwendigkeit, um unseren Frieden, unsere Sicherheit und unseren Wohlstand zu verteidigen.

Gefangen in der Aufrüstungsspirale?

BR24: Was entgegnen Sie Menschen, die das für Kriegstreiberei halten?

Thys: Ich bezeichne mich immer als aktiven Pazifisten in Uniform, der bereit ist, für den Frieden zu kämpfen. Und ich glaube, wo diese Menschen irren, ist, dass sie einfach die Menschheitsgeschichte leugnen. Sie leugnen das einfach. Wenn man in die Geschichte schaut: Solange Nachbarn streiten, werden Länder Kriege führen.

Wir wollen den Status Quo erhalten, weil wir in einer guten Welt leben. Aber wenn man sich den Rest der Welt anschaut, die wollen sich verbessern und man sieht, dass die meisten außerhalb Europas und den Vereinigten Staaten davon überzeugt sind, dass die Welt ein Null-Summen-Spiel ist: Für sie kann es nur besser werden, wenn es für uns schlechter wird. Krieg ist Teil der Menschheitsgeschichte und er wird Teil der Menschheitsgeschichte bleiben, einfach weil wir Menschen sind.

BR24: Danke für das Gespräch.

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