12.09.2022, Österreich, Seefeld: Ein Regionalzug ist nach einem schweren Unwetter von einer Mure getroffen und teils eingeschlossen worden. Foto: Sailer/ÖBB/APA/dpa
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Regionalzug bei Seefeld in Österreich von Mure eingeschlossen

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Folgen des Klimawandels: Immer mehr Muren und Bergstürze

Nach einem Murenabgang am Dienstagabend sind die Bundesstraße und die Bahnstrecke bei Seefeld immer noch gesperrt. Wissenschaftler sind sich einig: Erdrutsche, Felsstürze und andere Naturgefahren werden häufiger. Sie fordern ein Monitoring.

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Nach einem Murenabgang am Dienstagabend sind die Bundesstraße und die Bahnstrecke bei Seefeld immer noch gesperrt. Wissenschaftler dokumentieren inzwischen, dass Naturgefahren wie Muren und Felsstürze deutlich zunehmen werden.

💬 Mitdiskutieren lohnt sich: Die folgende Passage hat die Redaktion aufgrund eines Kommentars des Nutzers "Karl_Willi" zu den statistischen Daten im Rahmen des BR24 Projekts "Dein Argument" ergänzt.

Das geht unter anderem aus einer Studie der European Geoscience Union hervor, die die Murgänge am Plansee in den vergangenen 4.000 Jahren beleuchtet. Darin heißt es, dass die Zahl der Murgänge zuletzt rund siebenmal höher war als in den untersuchten zeitlichen Phasen zuvor. 💬

Demnach ist es in Rinnen oben am Berg im Prinzip nur eine Frage der Zeit, bis ein Starkregen mit extremen Wassermengen dort abgelagertes Geröll und Gesteinsschutt in Bewegung setzt. Mehrere solcher Rinnen gibt es über den Verkehrswegen zwischen Seefeld und Mittenwald. Hunderte sind es allein am bayerischen Alpenrand.

Extremereignisse häufen sich

2015 hatte sich nach einem Wolkenbruch eine Schlammlawine in einen Ortsteil von Oberstdorf gewälzt. Im Juli 2021 verwandelte sich in Schönau am Königssee der Klingerbach in einen Schuttstrom, der die Bobbahn fast komplett zerstörte. Wenig später kamen bei einer Flutwelle in der Höllentalklamm zwei Menschen ums Leben. Dies sind nur einige der bekanntesten Unwetterereignisse in den bayerischen Alpen in der jüngeren Vergangenheit.

An der Technischen Universität München (TU München) erforscht Michael Krautblatter diese Naturgefahren. Zeitreihen, die er durch Tiefenbohrungen in den Ablagerungen etwa am Plansee aufgestellt hat, ergeben, dass Murgänge heute sechs- bis siebenmal häufiger sind als in der Vergangenheit. Der Hamburger Klimaforscher Benjamin Poschlod liest aus den Wetterdaten der vergangenen Jahrzehnte ab, dass extreme Unwetter im Raum Berchtesgaden heute dreimal wahrscheinlicher sind als in der Vergleichsperiode 1971 bis 2000: "Je wärmer es wird, desto häufiger und intensiver werden Extremwetterereignisse."

Schutzarchitektur in den Bergen

Für Laien meist unsichtbar reihen sich Schutzbauwerke an bayerischen Bächen und Gerinnen bis hoch hinauf in die Berge. Helmut Henkel, Flussmeister in Lenggries, fährt mit seinem Jeep regelmäßig an Bächen wie dem Arzbach entlang und kontrolliert Treibholzfanggitter, Querbauwerke und Geschiebesperren, die allein an diesem Gebirgsbach mit Millionenaufwand errichtet wurden, um die Siedlung im Tal zu schützen.

Allein im Landkreis Bad Tölz gibt es rund 5.000 sogenannte Sperrenbauwerke. Seit Einführung des neuen Hochwasserschutzprogramms hat der Freistaat Bayern 3,5 Milliarden Euro in Schutzbauten investiert. Aber: Die Unwetterereignisse werden immer intensiver und das Schadenspotenzial nimmt auch durch den immer aufwändigeren Siedlungsbau im Tal immer mehr zu. Einen hundertprozentigen Schutz kann es nicht geben, sagt der Leiter des Wasserwirtschaftsamts Weilheim, Korbinian Zanker.

Wissenschaftler fordern Monitoring

Das Höllental an der Zugspitze und die Muren oberhalb von Oberstdorf werden inzwischen von Michael Krautblatter genau untersucht. Hier entwickelt der Geologe mit Sensoren und Videoüberwachung Techniken, um Hangbewegungen vorherzusagen und mit Computermodellen die Ausdehnung möglicher Murgänge oder Felsstürze zu prognostizieren. Der Naturgefahren-Spezialist schlägt vor, alle infrage kommenden 200 bis 300 murfähigen Gerinne in den bayerischen Alpen auf ihr Gefahrenpotenzial hin zu untersuchen.

Braucht es eine neue Risikokultur?

Muren, die mehrere hundert Lastwagenladungen Geröll, Schlamm und Holz zu Tal befördern, sind keine Seltenheit mehr. Ganze Berggipfel stürzen ein, wie in diesem Sommer am Fluchthorn in der Silvretta. In der besonders kritischen Höhenzone um 3.000 Meter hat sich das Bergsturzrisiko durch das Auftauen des Permafrosts massiv erhöht. Länder wie die Schweiz haben deshalb Modelle zur risikobasierten Planung entwickelt. Hier wird der Aufwand für Schutzbauten mit dem potenziellen Schadenspotenzial gegengerechnet. So gibt es Grenzwerte für ein akzeptiertes individuelles Risiko. Notfalls müssen Siedlungen zeitweise geräumt werden, wenn Hangrutschungen drohen.

Klimaänderungszuschlag und vorausschauende Planung

Der Freistaat Bayern arbeitet inzwischen mit einem Zuschlag von 15 Prozent auf ein hundertjähriges Hochwasserereignis, um die neuen Extremereignisse in die Schutzvorkehrungen einzukalkulieren. Klimaforscher wie Benjamin Poschlod glauben, dass diese Werte künftig nicht mehr ausreichen werden. Richtlinien für Siedlungsbau, Gebäude und Infrastruktur müssten stärker an die Dynamik des Klimawandels angepasst werden. Und: Die neue Dimension der Naturgefahren müsse dringend auch auf der kommunalen Ebene in die Planungen einbezogen werden. Flächen, die heute noch als Siedlungs- oder Gewerbegebiete ausgewiesen werden, könnten sich als gefährdet erweisen oder sind es schon. Hier wäre es dringend nötig, den Flächenverbrauch zu begrenzen, sagen die Klimaforscher.

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