10 Jahre Kita-Rechtsanspruch: Die Realität sieht anders aus
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10 Jahre Kita-Rechtsanspruch: Die Realität sieht anders aus

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10 Jahre Kita-Rechtsanspruch: Die Realität sieht anders aus

Seit zehn Jahren gibt es den gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz für Kinder unter drei Jahren. Doch es fehlen Betreuungsplätze und Personal – ein Mangel, der sich mit dem Anspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen noch verschärfen könnte.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Frühjahr 2022: Alexander und Irene Hufschmid wenden sich an ihre Gemeinde im oberbayerischen Holzkirchen, wollen ihre damals zwei Jahre alten Zwillinge für die Kita im Herbst anmelden. Es kommt die Absage mit der Begründung: Personalmangel. "Das war eine große Enttäuschung und ein Schock: Was machen wir?", erinnert sich Mutter Irene. Sie plant, im Herbst wieder als Lehrerin zu arbeiten. Ihr Mann Alexander will nach seiner Elternzeit ebenfalls wieder Vollzeit als Anwalt arbeiten.

Kita-Platz-Klagen: Druck auf Kommunen

Als sie leer ausgehen, schreiben sie alle Kitas in den Nachbargemeinden an, fragen bei bis zu 20 Tagesmüttern an. Bald aber ist klar: Sie bekommen keine Betreuung für ihre Kinder. Familie Hufschmid beschließt zu klagen: "Ich habe mich dazu gezwungen gefühlt, das zu machen", so Irene Hufschmid. Ihr Mann, der Anwalt ist, klagt selbst gegen den eigenen Landkreis und bekommt zunächst Recht.

Bundesfamilienministerium: Rechtsanspruch auf Kita-Platz ist wichtig

Denn vor genau zehn Jahren, am 1. August 2013, beschlossen Bund, Länder und Kommunen den gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz für Kinder unter drei Jahren, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Der Anspruch aber hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun: Schätzungsweise bis zu 290.000 Plätze für unter dreijährige Kinder fehlen bundesweit, wie es vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung auf Anfrage heißt.

Für die heutige Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) war es dennoch eine richtige Entscheidung: "Wenn er [der Anspruch] nicht gewährleistet ist, dann können alle beide Geschlechter – aber klassischerweise vor allem die Frauen – nicht in dem Umfang der Erwerbsarbeit nachgehen, wie sie wollen. Deswegen ist das ganz wichtig."

Verdienstausfall-Klage erhöht den Druck

Die Realität sieht aber oft anders aus: Trotz erfolgreicher Klage gibt es für die Familie von Anwalt Alexander Hufschmid zunächst keine Kita-Plätze. Er selbst weiß: "Wenn jeder klagen würde, dann sind die Plätze auch nicht auf einmal da."

Hufschmid kann nicht mehr Vollzeit arbeiten, betreut die Zwillinge zu Hause und reicht daher eine Verdienstausfall-Klage ein. Denn: Städte und Kommunen müssen grundsätzlich den Verdienstausfall der Eltern bezahlen, wenn sie zu wenige Betreuungsplätze für Kleinkinder bereitstellen. Das hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe bereits 2016 entschieden. Das erhöht den Druck auf die Kommunen weiter: "Einen Tag später kam der Anruf: Jetzt gibt's Kindergartenplätze für unsere Kinder", so Alexander Hufschmid.

Kitas: Ausbau von Plätzen und Personal reicht nicht

Obwohl das Bundesfamilienministerium von Lisa Paus nicht für Kitas zuständig ist, sondern die Kompetenz dafür bei den Ländern liegt, "hat der Bund den Ausbau von Kita-Plätzen massiv unterstützt, seit Jahrzehnten", so Paus. Mit Geld, Förderprogrammen, Boni und Werbekampagnen.

Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung bestätigt auf Nachfrage, dass sich seit Einführung des Rechtsanspruchs einiges getan hat: Lag die Betreuungsquote unter Dreijähriger vor zehn Jahren noch bei 29 Prozent, stieg sie bis zum vergangenen Jahr auf 35 Prozent. Seit der Kita-Anspruch gilt, wurde auch Personal aufgestockt: über 200.000 Fachkräfte mehr.

Familienministerium: "Wir kommen nicht mehr mit dem Ausbau nach"

Doch das reicht nicht: Mit dem Rechtsanspruch ist auch der Wunsch nach Betreuung stetig gewachsen – eine enorme Betreuungs- und Bedarfslücke tut sich auf, wie auch Ekin Deligöz, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, weiß.

Anfangs sei man davon ausgegangen, dass nur wenige Eltern die frühkindliche Betreuung in Anspruch nehmen und die Erziehung – vor allem durch Frauen – zunächst zu Hause stattfindet, so Deligöz. "Inzwischen hat sich das als etwas anderes entpuppt: Die Nachfrage ist höher und steigt täglich – wir kommen gar nicht mehr mit dem Ausbau nach."

Überlastete Erzieherinnen und fachfremdes Personal

Die Folgen: lange Wartelisten, überlastetes Personal mit Überstunden und Kommunen, die fachfremdes Personal einstellen, um den Personalmangel aufzufangen, wie es vom Bundesverband Erziehung und Bildung auf Anfrage heißt.

Gerhard Brand ist Bundesvorsitzender und fürchtet, dass die Betreuungs-Qualität sinkt. Er will Familien daher wieder mehr in die Verantwortung nehmen: "Wir sind es gewohnt in der Gesellschaft, dass Kindertagesstätten die Betreuung übernehmen und die Familien weitgehend entlasten. Das kann in Zukunft vielleicht nicht mehr in dem Umfang gewährleistet werden, den wir seither kennengelernt haben."

Bund und Länder wollen Personalmangel den Kampf ansagen

Anders sieht das Bundesfamilienministerin Paus, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorantreiben will. Das Ministerium plant daher im Herbst eine Konferenz mit Bund und Ländern, um das Thema Fachkräftemangel gemeinsam anzugehen. Es soll um neue Ausbildungsformen gehen, aber auch um die Anerkennung ausländischer Abschlüsse. "Das sind viele verschiedene Bausteine, die müssen jetzt alle umgesetzt werden", so Ekin Deligöz.

2026: Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen

Bund und Länder stehen unter Druck: Werden keine neuen Fachkräfte gewonnen, könnten in drei Jahren weitere Klage-Wellen drohen. Denn ab August 2026 gilt neben dem Kita-Platz-Anspruch ein weiterer Rechtsanspruch für Familien: Alle Grundschulkinder der ersten Klassenstufen haben dann ein Recht auf eine Ganztagsbetreuung. Der Anspruch wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet, sodass ab August 2029 alle Grundschulkinder ein Recht darauf haben.

Das Ganztagsförderungsgesetz hatte noch die Große Koalition aus CDU und SPD gemeinsam mit den Ländern beschlossen. Damit sollte eine Betreuungslücke geschlossen werden, die für viele Familien klafft, wenn Kinder eingeschult werden.

Bundesverband Erziehung und Bildung: Ganztagsanspruch "fahrlässig"

Das bedeutet aber auch: Noch mehr pädagogisches Personal wird für die Betreuung gebraucht, das bereits jetzt in Kitas fehlt. Angesichts der derzeitigen Situation "finde ich es von der politischen Seite her fahrlässig, so zu tun, als könnten wir das leisten, obwohl wir genau wissen, dass wir alle Hände voll damit zu tun haben werden, allein den Status quo nur einigermaßen sicherzustellen", kritisiert daher Gerhard Brand vom Bundesverband Erziehung und Bildung.

Familie Hufschmid aus Oberbayern jedenfalls ist glücklich: Durch ihre Klagen haben sie für ihre Zwillinge Betreuungs-Plätze erhalten. Leo und Moritz gehen gern zum Spielen in die Kita. Und Alexander und Irene Hufschmid können beide arbeiten: "Jetzt sind wir sehr zufrieden."

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