Eine Reuthaue brachte den Bewohnern von Hinterkaifeck den Tod. Der Sechsfachmord jährt sich zum 100. Mal.
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Eine Reuthaue brachte den Bewohnern von Hinterkaifeck den Tod. Der Sechsfachmord jährt sich zum 100. Mal.

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True Crime Hinterkaifeck: Ein Mythos wird 100

Ende März jährt sich der Sechsfachmord von Hinterkaifeck. Sechs Menschen wurden damals brutal erschlagen. Das Verbrechen auf einem Einödhof im Kreis Neuburg-Schrobenhausen wurde nie aufgeklärt und beschäftigt die Menschen bis heute.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten aus Oberbayern am .

Der Sechsfach-Mord von Hinterkaifeck bei Schrobenhausen zählt zu den bekanntesten bayerischen Kriminalfällen. Heute jährt er sich zum hundertsten Mal. Bis heute lässt dieser Fall die Menschen nicht los. Warum nur?

Im Freilichtmuseum den Tatort "nachspüren"

Sichtlich bewegt geht Olaf Krämer durch ein Bauernhaus im Donaumoos. In der Verbindungstür zum Stadel bleibt er stehen. Das "Öxlerhaus" im Freilichtmuseum "Haus im Moos" ähnelt auf verblüffende Weise dem Tatort Hinterkaifeck. Schon oft war der Sprecher der Internetplattform Hinterkaifeck.net hier, um der Bluttat und ihren sechs Opfern nachzuspüren: Das einstöckige, enge und kleine Wohnhaus ist wie am Originaltatort mit dem Stall und dem Stadel zusammengebaut und durch einen Gang verbunden. Für Olaf Krämer wird hier im Eingang zum Stadel erlebbar, wie sich die Männer gefühlt haben müssen, die vor 100 Jahren die sechs Leichen in Hinterkaifeck entdeckt haben: "Das muss man sich so vorstellen, dass hinter so einer Tür wie hier vier Leichen aufeinander gelegen sind. So haben sie die Auffinder gefunden. Mit Stroh bedeckt und einem Türblatt oben drauf." Er stelle sich das grausam vor, sagt Krämer. "Einer hatte dann die Aufgabe, in den Wohnbereich zu gehen und zu schauen, was da ist und fand die Magd und den kleinen Josef in seinem Kinderwagen, durch das Dach vom Kinderwagen erschlagen."

  • Zum Artikel: Bis heute ein Rätsel: Der Sechsfach-Mord von Hinterkaifeck

Viele ungelöste Rätsel

Olaf Krämer betreibt eine Versicherungsagentur. Doch die Leidenschaft des Hobby-Historikers gehört dem Fall Hinterkaifeck. Gemeinsam mit rund 1.100 weiteren Männern und Frauen aller möglichen Berufssparten diskutiert er auf der Plattform Hinterkaifeck.net über die ungezählten Rätsel, die den Sechsfachmord umgeben. Krämer kann viele Gründe nennen, warum gerade Hinterkaifeck auch nach einem Jahrhundert die Menschen fasziniert und ins Grübeln bringt. Die extreme Brutalität des Vielfachmordes sei zwar spektakulär, aber keine ausreichende Erklärung. Die liege in den vielen ungelösten Rätseln rund um den Fall. Wie verzwickt er sei, zeige, dass nie jemand wegen des Falls angeklagt worden sei. Und das bei der beispiellosen Zahl an Verdächtigen. Er sei auf eine Zahl von 150 Verdächtigen gekommen, sagt Krämer. "Da gibt es so viele Puzzleteilchen, die nicht so ganz zusammenpassen und daraus ist für mich ein richtiger Mythos entstanden. Und das ist dann mein Antrieb, immer noch mehr rauszufinden."

Zusammenarbeit zwischen Polizeimuseum und Netzgemeinschaft

Seit Jahren arbeitet das Forum Hinterkaifeck.net mit dem bayerischen Polizeimuseum in Ingolstadt zusammen. Museumsdirektor Ansgar Reiß hat der Plattform den Zugang zu mehreren Archiven geöffnet, aber auch selbst sehr von dem Austausch profitiert, vor allem als sein Museum 2016 eine Ausstellung zu Hinterkaifeck organisierte: "Wir haben hier Dinge und Informationen bekommen, in einer Dichte, die ein einzelner Kurator gar nicht hätte erarbeiten können.“

Auch den Direktor fasziniert der Fall Hinterkaifeck. Er sieht hier einen schier unerschöpflichen Fundus für die Polizeiarbeit vor einem Jahrhundert. Doch für ihn als Historiker eröffnet der Blick auf die tragischen Ereignisse auch wichtige Eindrücke vom Leben der Menschen damals auf dem Land. "Da kann man einen sehr konkreten Blick in diese alte ländliche Gesellschaft werfen. Und dann eben auch das Verhältnis dieser Gesellschaft zur Obrigkeit: Geht man zur Polizei? Redet man mit der Polizei oder tut man es lieber nicht?", sagt Reiß. Auch wenn der Erste Weltkrieg nicht unmittelbar vor Ort stattgefunden habe, seien die Menschen in der Kriegszeit extrem verarmt, die Gebäude seien heruntergekommen, Familien zerstört worden. "Auch dies ist ein Blick in eine Gesellschaft, die einen extremen Gegensatz zu unserer heutigen Gesellschaft, sehr gesättigten Gesellschaft darstellt und das hat natürlich auch eine Faszination", meint der Direktor des Bayerischen Polizeimuseums.

Tausende von Dokumenten auf der Plattform

Aus welchen Gründen auch immer man sich für die näheren Umstände von Hinterkaifeck interessiert, auf der gleichnamigen Plattform lässt sich fast alles nachlesen. Hier finden sich Tausende von Dokumenten: Hinter der Domain Hinterkaifeck.net hängt ein so genanntes Wiki dran. "Da haben wir die wichtigsten Akten alle abgeschrieben und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Da gibt es alle Zeitungsberichte, die wir finden konnten. Da findet man auch Sachverhalte, zum Beispiel zum damaligen Erbrecht. Alle für den Fall wichtigen Personen sind dort auch einzeln beschrieben, auch die Ermittler. Das ist also ein ganz, ganz mächtiges Instrument." sagt Olaf Krämer vom Forum Hinterkaifeck.net.

Nächtliche Wanderungen zum Tatort

Von Herbst bis ins Frühjahr führt Olaf Krämer Gruppen von der nahen Gemeinde Waidhofen nach Hinterkaifeck. Wochenende für Wochenende gibt es zwischen drei und fünf Nachtwanderungen an den Tatort. Nur Corona konnte den Andrang vorübergehend ausbremsen. Nun laufen die Führungen wieder an. Und das Interesse ist wieder groß, obwohl es am eigentlichen Tatort nichts mehr zu sehen gibt. Schon kurz nach dem Mord wurde der Einödhof dem Boden gleichgemacht. "Trotzdem wollen die Leute unbedingt hin", sagt Krämer. "Wenn wir dann vor Ort alle Lampen und Lichter ausmachen und auch kein Mond da ist, dann erkennen sie die Einsamkeit. Dunkelheit. Niemand hätte die Opfer schreien hören. Das berührt die Leute sehr wohl ganz stark. Dann haben sie nämlich eine Idee, wie einsam die Leute dort gestorben sind.“

Größter Wunsch: Den Opfern ein Gesicht geben

Auch wenn er unermüdlich weiter zu Hinterkaifeck forscht, rechnet Olaf Krämer nicht damit, dass er oder ein anderer den Fall je wirklich lösen wird. Dennoch treibt ihn ein Wunsch immer wieder in die Archive. Er will Fotos von den sechs Toten finden. Die gibt es bislang noch nicht. Doch Olaf Krämer gibt nicht auf. Er will "den Opfern irgendwann ein Gesicht geben!"

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