Ein Kripo-Beamter untersucht 1999 den Tatort in der Scheurlstraße
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Ein Kripo-Beamter untersucht 1999 den Tatort in der Scheurlstraße

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Nach NSU-Anschlag: Sah eine Nachbarin die Täter?

Die Hintergründe zum Bombenattentat auf einen jungen Kneipenwirt in Nürnberg vor 23 Jahren könnten die Mordserie des NSU endlich erhellen. Denn das Opfer konnte einen wichtigen Hinweis geben. Und: Auch eine Anwohnerin machte eine Beobachtung.

Es war ein kaum hörbarer "Klick", der Mehmet O. (Name geändert) komplett aus der Bahn warf. An jenem Vormittag im Juni 1999 krempelte er die Ärmel hoch und wollte seinen "Lebenstraum" aufpolieren. So nennt der junge Türke, der 1980 in Nürnberg geboren wurde, auch heute noch die kleine Pilsbar "Sonnenschein" in der Scheurlstraße, die er zwei Wochen zuvor gepachtet hatte. Die Eltern hatten ihr Erspartes zusammengekratzt, damit sich der Sohn mit der Volljährigkeit seinen großen Wunsch erfüllen konnte: Gastwirt in seiner Heimatstadt zu werden. Bei einer Einweihungsfeier im kleinen Familienkreis stieß man auf dieses Ereignis an.

NSU-Opfer: "Mein Leben hat sich komplett geändert"

Am anderen Morgen also nahm Mehmet Putzlappen und Schrubber zur Hand und machte sich in der Herren-Toilette zu schaffen, als ihm eine etwa 50 Zentimeter große Stabtaschenlampe unter dem Waschbecken auffiel, die er da noch nie gesehen hatte. Interessiert drehte und wendete er das Gerät und drückte schließlich den Knopf. Klick. "Von da an änderte sich mein Leben", erzählt Mehmet O. jetzt dem gemeinsamen Rechercheteam von Bayerischem Rundfunk und Nürnberger Nachrichten. Die Wucht der Sprengstoff-Detonation schleuderte ihn bis zur Eingangstür. Mit Splittern im Gesicht, an Armen und Beinen, Riss- und Schürfwunden am ganzen Körper kam er langsam zu sich, auf allen vieren krabbelte er ins Freie. Sieben Wochen lang konnte er sich seinen Erinnerungen nach kaum bewegen, musste gefüttert werden. Und während die Wunden langsam verheilten, wuchs die Angst immer stärker in ihm: "Wer kann das gewesen sein?"

Ermittlungen gegen Opfer

Die Ermittler des Landeskriminalamtes hatten darauf keine Antwort und verdächtigten Mehmet O. und sein Umfeld. "Aber ich bin das Opfer", protestierte er. Weil er die Ungewissheit, wer ihm nach dem Leben trachtete, und die Verdächtigungen der Ermittler nicht mehr ertrug, verließ der junge Mann ein paar Jahre später Nürnberg. Erst 14 Jahre nach der Tat kam heraus, dass es die Rechtsterroristen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) waren, die ihn töten wollten. Im großen NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe sagte ein Mitangeklagter aus, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten ihm erzählt, "mal eine Taschenlampe" in einem Nürnberger Laden abgestellt zu haben, doch "die Sache sei fehlgeschlagen". Mehmet O. war offenbar das erste Mordopfer, dass die Terrorzelle ausgespäht hatte, ehe sie im September 2000 den Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg erschoss.

NSU-Opfer erkannte Rechtsextremistin aus Sachsen

Warum kam man damals nicht auf die Täter, die kurz vorher untergetaucht waren? Der neue Untersuchungsausschuss im bayerischen Landtag, der am kommenden Donnerstag seine Arbeit aufnehmen wird, will sich intensiv mit dieser zentralen Frage auseinandersetzen. Mehmet O. jedenfalls, der sich anderswo in Deutschland eine neue Existenz aufgebaut hat, bekam im Sommer 2013 unerwarteten Besuch vom Bundeskriminalamt. Zwei Polizisten legten ihm 115 Lichtbilder von Beschuldigten und Verdächtigen im NSU-Verfahren vor. Sofort tippte Mehmet auf Bild Nr. 7. "Die kommt mir dermaßen bekannt vor", sagte er den Ermittlern und fügte ein paar Mal hinzu: "Die geht mir nicht mehr aus dem Kopf!". So steht es auch in den Akten, die der Redaktion vorliegen.

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Wen er da erkannt hatte, sagten ihm die Kriminalkommissare aber nicht. Dies erfuhr er erst vom BR/NN-Rechercheteam. Es war Susann E., wohl die beste Freundin von Beate Zschäpe. "Die Angst ist heute immer noch da! Ich weiß nicht, wer an der Bushaltestelle wirklich neben mir steht", gesteht Mehmet O., der inzwischen in der Lebensmittelbranche arbeitet. Das Trio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos sei "gewiss nicht alleine gewesen", mutmaßt er, die Unterstützer würden heute unerkannt "in ganz normalen Familien" leben.

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NSU-Opfer Mehmet O. in seinem Wohnzimmer

Großes Polizeiaufgebot nach dem Bombenattentat

In der Nürnberger Scheurlstraße kann sich kaum ein Bewohner an die Explosion von 1999 erinnern, die einen ohrenbetäubenden Knall verursacht hatte und Glasscheiben zerbersten ließ. Küchenstudio und Fahrschule nebenan haben hier erst viel später eröffnet, im Waschsalon gegenüber weiß niemand etwas von dem Vorfall und in den Wohnungen über der Kneipe sei ein "ständiges Ein- und Ausziehen" zu beobachten, berichtet Maria B. (Name geändert). Aus dieser Zeit wohne niemand mehr hier, sagt die 90-Jährige. Sie hat den Anschlag nicht mitbekommen, weil sie damals mit ihrem Mann im Schrebergarten werkelte. Auch ihre Nachbarin Berta M. (Name geändert) hat den warmen Sommertag im Freien verbracht. Aber am Abend, als sie mit dem Ehemann nach Hause kam, kam ihnen das große Polizeiaufgebot vor der Kneipe "Sonnenschein" merkwürdig vor. Erst aus den Nürnberger Nachrichten hätten sie dann von einer Explosion erfahren.

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Nachbarin will NSU-Terroristen in Nürnberg beobachtet haben

Und dann berichtet Anwohnerin M. dem Rechercheteam von einer Begebenheit, die sie bis jetzt für sich behalten hatte. Ein paar Jahre nach dem Attentat auf die Kneipe wollte sie in der gar nicht so weit entfernten Scharrerstraße einige Bankgeschäfte erledigen. Auf dem Weg zur Sparkasse beobachtete Berta M. zwei Männer, die mit Fahrrädern herfuhren. "Die hatten den Sattel so hochgestellt. Und die sprachen so einen grässlichen sächsischen Dialekt. Den hasse ich ja, das vergisst man nimmer!" Die Männer mit den ganz kurzen, blonden Haaren hätten sich dann einer Imbissbude genähert und miteinander gesprochen. Am 9. Juni 2005 wurde İsmail Yaşar in seinem Imbissstand in der Scharrerstraße vom NSU getötet. Die Täter hat niemand beobachtet. Doch Berta M. ist sich sicher: Auf den Fotos von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die nach dem Auffliegen des NSU in den Medien zu sehen waren, hat sie die beiden Radler aus der Scharrerstraße wiedererkannt.

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Zwei Anwohnerinnen stehen in der Scheurlstraße vor einer Tafel, die an den NSU-Anschlag erinnert

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