NSU-Mordwaffe Ceska 83, 7,65 Browning mit Schalldämpfer
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NSU-Mordwaffe Ceska 83, 7,65 Browning mit Schalldämpfer

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NSU-Mordserie: "Vertrauen noch nicht wiederhergestellt"

Im Bayern soll ein zweiter NSU-Untersuchungsausschuss zur terroristischen Mordserie seine Arbeit beginnen. Ein wichtiges Zeichen, finden Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft. Denn das Vertrauen in den Staat sei "noch nicht wiederhergestellt".

Arif Taşdelen hatte nach Feierabend im Frühsommer 2005 noch einen Abstecher in die Nürnberger Scharrerstraße gemacht, um mit İsmail Yaşar (50) in seiner Imbissbude ein bisschen zu schwatzen. Taşdelen, in der Türkei geboren und in Nürnberg aufgewachsen ist zu dieser Zeit Vorsitzender der Mögeldorfer SPD. Er schaute damals öfter bei seinen Freunden aus der türkischen Community vorbei, man kannte sich.

İsmail Yaşar, der im Stadtteil beliebte Döner-Verkäufer, scheuerte gerade seinen Stand blitzblank, wie er es jeden Abend zu tun pflegte, als Taşdelen hereinschneite. Man trank eine Tasse türkischen Tee miteinander und verabschiedete sich nach 20 Minuten wieder.

Am Tatort: Kripo-Beamte in Schutzanzügen

Am anderen Morgen, es war der 9. Juni 2005, fuhr der Zollbeamte Arif Taşdelen auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz abermals durch die Scharrerstraße. Er wollte Yaşar vom Auto aus noch rasch zuwinken, wie er es öfter tat, wenn der um diese Uhrzeit seine Holzbude gegenüber einer Schule aufsperrte.

İsmail Yaşar konnte allerdings nicht mehr zurückwinken. Die Straße war mit rot-weißen Absperrbändern abgeriegelt, Beamte der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen liefen zum Imbiss. "Da wusste ich, da ist etwas passiert", erzählt Taşdelen, der heute Generalsekretär der Bayern-SPD ist. Später erfuhr er: Yaşar war kurz vorher erschossen worden.

Untersuchungsausschuss geht NSU-Morden in Bayern nach

Ab dem 19. Mai wird sich Landtagsabgeordneter Taşdelen als Vertreter seiner Partei im neuen Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags nun intensiv mit dem Mord an Yaşar befassen. Und auch mit den beiden anderen Morden, die die rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) in Nürnberg verübte.

Insgesamt zehn Menschen – Kleinunternehmer und Händler mit Migrationsgeschichte und eine deutschen Polizistin – tötete der NSU in den Jahren zwischen 2000 und 2007 in Deutschland, die meisten Morde geschahen in Bayern.

Wie bereits im September 2000, als die Ermittler rätselten, warum der Blumenhändler Enver Şimşek an seinem Verkaufsstand zwischen Langwasser und Altenfurt ermordet wurde, und wie im Juni 2001, als man keine Erklärung fand, warum Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei getötet wurde, so gerieten auch nach dem Yaşar-Mord die Familien der Opfer in Verdacht, etwas mit den Taten zu tun zu haben.

  • Zum Artikel: "Tochter von NSU-Opfer beklagt 'institutionellen Rassismus'"

Hätte die NSU-Mordserie verhindert werden können?

Erst im Jahr 2011, als sich die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem missglückten Banküberfall selbst töteten, flog auf, wer hinter der Mordserie steckte, die Deutschland in Atem gehalten hatte. Hätten sie verhindert werden können, wenn man das Taschenlampen-Attentat 1999 auf eine Kneipe in der Nürnberger Südstadt aufgeklärt hätte, fragt sich Taşdelen? Denn auch dieser Anschlag – vor dem ersten Mord – ging auf das Konto des NSU, wie man heute weiß.

Der SPD-Politiker kann sich vorstellen, dass der Untersuchungsausschuss in den 15 Monaten, die ihm noch bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2023 Zeit bleibt, auch Beate Zschäpe vorladen wird, die Überlebende des NSU-Kerntrios, die jetzt eine lebenslange Haftstrafe verbüßt. Die Abstimmungen über die Zeugenbefragungen laufen derzeit hinter den Kulissen. Ob Zschäpe aussagen würde, wie man die Opfer ausgespäht hat? "Man muss es versuchen", meint Taşdelen.

  • Zum Artikel: "Zehn Jahre nach Ende des NSU-Terrors: Immer noch offene Fragen"
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NSU-Mordopfer - oben, v.l.: Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü, Kılıç, Kiesewetter; unten, v.l.: Turgut, Yaşar, Boulgarides, Kubaşık, Yozgat

"Wir sind extrem gut vorbereitet"

Es ist der Initiative der Grünen-Landtagsfraktion zu verdanken, dass der Ausschuss nun installiert wird und all die Ermittlungspannen, das Versagen der Behörden, die Blockaden von Sicherheitsdiensten im undurchsichtigen NSU-Komplex jetzt auf den Tisch kommen sollen.

"Wir sind extrem gut vorbereitet", sagt die Nürnberger Grünen-Landtagsabgeordnete Verena Osgyan. Gutachten hat die Partei ausarbeiten, Expertisen über die rechte Szene in Nordbayern anfertigen lassen. Denn dass das NSU-Kerntrio nicht alleine gehandelt hat, steht fest. Es gehe nun darum, "das Unterstützernetzwerk, das bis heute existiert, in den Blick zu nehmen", sagt Osgyan.

Sie hat mit den Familien der Getöteten gesprochen, mit dem ehemaligen Wirt der Kneipe, der beim Anschlag verletzt worden war. Man wolle einen "ernsthaften Versuch" unternehmen, möglichst viele der offenen Fragen zu klären, hat sie ihnen versichert. Was wusste der Verfassungsschutz über das abgetauchte NSU-Kerntrio? Wie liefen die Kontakte nach Nürnberg und München, wo zwei weitere Menschen getötet wurden?

  • Zum Artikel: "NSU-Terror: Neue Verbindungen führen von Sachsen nach Nürnberg"

Gute Zusammenarbeit zwischen Grünen, SPD, FDP, CSU und FW

Toni Schuberl, der designierte Vorsitzende des zweiten Untersuchungsausschusses in Bayern zur NSU-Thematik und rechtspolitischer Sprecher der Grünen, ist entschlossen, "alle Personen, die Antworten geben könnten", vorzuladen: Verfassungsschützer, V-Leute, Polizisten, selbst den Generalbundesanwalt, der derzeit noch über viele Akten aus dem Komplex verfügt, kann sich Schuberl als Zeugen vorstellen.

Die Zusammenarbeit zwischen Grünen und SPD laufe gut, sagen die Politiker, aber auch die Staatsregierung aus CSU und Freien Wählern und auch die FDP haben Unterstützung signalisiert. Dass die rechtsextreme AfD ebenfalls einen Sitz im Ausschuss erhält, mache kein Kopfzerbrechen, versichert Schuberl. "Wir pflegen einen geschäftsmäßigen Umgang".

  • Zum Artikel: "Grüne und SPD wollen NSU-Morde nochmals untersuchen lassen"

Zusammenhänge sollen neu bewertet werden

Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König (CSU) zeigt sich "dankbar", dass es mit "vereinten Kräften" geschafft worden ist, neue parlamentarische Untersuchungen in Gang zu setzen. Der Nürnberger Stadtrat hatte sich bereits vor einem Jahr nahezu einmütig für ein solches Gremium eingesetzt. Nun könnten manche Aspekte neu bewertet werden, hofft König. Und vielleicht doch noch Licht ins dunkle Kapitel gebracht werden.

Denn erst im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe 2013 kam durch die Aussage eines weiteren Angeklagten heraus, dass für den Anschlag auf die Nürnberger Kneipe 1999 ebenfalls der NSU verantwortlich ist. Damals hatte der erste Untersuchungsausschuss in Bayern seine Arbeit aber bereits beendet. Vielleicht, überlegt König, müsse man jetzt Zusammenhänge neu bewerten.

Hintermänner des NSU in Nürnberg sollen aufgedeckt werden

Stefan Doll, der Vorsitzende der Allianz gegen Rechtsextremismus, hofft, dass vor allem die "Hintermänner und -frauen" in der Metropolregion Nürnberg, die dem NSU geholfen haben, die Opfer auszukundschaften, endlich enttarnt werden. Es sei ungeheuer wichtig, "dass wir als Gesellschaft die Sicherheit haben, dass alle, die dabei waren, strafrechtlich belangt und verurteilt werden." Das wünschen sich auch - seit mehr als zwei Jahrzehnten - die Menschen, die mit Migrationshintergrund in der Region leben.

Alev Bahadir, Geschäftsführerin des Vereins "Junge Stimme e.V.", der sich um die Integration und Bildung junger Eingewanderter kümmert, hält den neuen Untersuchungsausschuss für "längst überfällig". Man müsse der Opfer gedenken, dies verpflichte aber auch zur Aufklärung, sagt Bahadir. Man erwarte, dass besonders die Rolle der Unterstützer des NSU in Bayern aufgearbeitet werde.

Vertrauen in Staat und Polizei "noch nicht wiederhergestellt"

Bülent Bayraktar, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in der Metropolregion, hält es für unabdingbar, dass man auch Verbindungen zwischen dem NSU und "aktuellen rechtsterroristischen Bedrohungen" unter die Lupe nimmt. Die Angehörigen der Opfer seien nach wie vor enttäuscht, dass Staat und Justiz bislang keine Antworten auf wichtige Fragen liefern konnten. Das Vertrauen in Staat und Polizei sei nach dem Desaster der falschen Verdächtigungen nach den Morden in der türkischen Community noch immer nicht wiederhergestellt, betont Bayraktar.

Und auch im aktuellen Fall der mutmaßlichen Rechtsterroristin Susanne G. aus dem Nürnberger Land, die laut Gerichtsurteil eine schwere staatsgefährdenden Gewalttat schuldig vorbereitet haben soll, seien Fragen zu ihrem Netzwerk und den Strukturen nicht beantwortet. Die Neonazi-Aktivistin wurde zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt, legte gegen das Urteil aber Revision ein. Susanne G. hatte intensiven Kontakt zu NSU-Unterstützern wie Ralf Wohlleben. Dieser hatte dem NSU die Waffe besorgt, mit der neun der zehn Opfer getötet wurden.

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NSU-Morde: Weiterer Untersuchungsausschuss eingesetzt
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