Künstlerische Darstellung eines Polizisten um 1945 mit einem Jungen im Hintergrund
Bildrechte: BR / Anna Hunger

Künstlerische Darstellung eines Polizisten um 1945 mit einem Jungen im Hintergrund

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Morde nach Kriegsende: Judenhass im Hinterzimmer 

Kurz nach Kriegsende erschüttern zwei Mordfälle die jüdische Gemeinde in Regensburg. Es gibt Hinweise auf antisemitische Hassverbrechen, doch die Regensburger Polizei geht damals von Raubmord aus. Eine Spurensuche führt tief in den Zweiten Weltkrieg.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Ein Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Regensburg erregt die Aufmerksamkeit der Autorin Waltraud Bierwirth: Nahe der Friedhofsmauer steht ein Grabstein mit einer abgebrochenen Säule. Im jüdischen Glauben ist das ein Symbol für ein jäh und zu früh beendetes Leben. In diesem Fall: das Leben von Berek Goldfeier.

"Ich wusste aus der Literatur, dass hier ein junger Mensch liegt, der nach der Shoah nach Regensburg gekommen ist und hier gestorben ist. Und da wollte ich natürlich herausfinden: Warum ist er gestorben?", erzählt die Autorin in der Dokumentation von Kontrovers – Die Story.

 Judenhass im Hinterzimmer

Laut der Hebräischen Inschrift auf dem Grabstein ist Berek Goldfeier im Hinterhalt von seinen Mördern getötet worden. Er starb im Dezember 1945 und wurde nur 14 Jahre alt. Wurde er ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs ermordet, weil er Jude war? War es ein antisemitischer Mord? Diese Fragen lassen Waltraud Bierwirth nicht mehr los. Sie ist überzeugt: Das Kriegsende allein bedeutete nicht auch das Ende des Antisemitismus in Bayern: "Das ist nicht verschwunden aus dem kollektiven Gedächtnis. Es sitzt tief. Damals hatte sich dann der Judenhass in die Hinterzimmer verzogen, und heute kommt er wieder zum Vorschein."

Im Video: Die Story von Kontrovers – Morde nach Kriegsende: Judenhass im Hinterzimmer 

Berek Goldfeier: Holocaust überlebt, in Regensburg ermordet 

Bei ihrer Suche findet Waltraud Bierwirth heraus, dass Berek Goldfeier aus Polen kam, mit seiner Familie ins Ghetto von Lodz deportiert wurde, bevor er 1944 von dort aus nach Auschwitz-Birkenau kam. Die Brüder Berek und Moshe Goldfeier überleben den Holocaust und landen im Dezember 1945 in Regensburg. Kurz darauf ist Berek Goldfeier tot. 

Waltraud Bierwirth stößt im Internet auf ein Zeitzeugen-Interview des Bruders: Mit Tränen in den Augen berichtet Moshe von seinen schmerzlichen Erlebnissen 1945 in Regensburg. Er erzählt, wie sein Bruder von einigen Deutschen wegen etwas Geld und einer Armbanduhr ermordet worden sei. Moshe wisse nicht, ob sein Bruder wegen der Uhr oder wegen seines jüdischen Glaubens getötet wurde. 

War es Raubmord? 

Im Staatsarchiv Amberg sieht die Autorin die damaligen Ermittlungsakten der Polizei und erfährt, dass Berek Goldfeier im Dezember 1945 zum Bahnhof ging, um einen Mann zu treffen, der ihm Winterkleidung verkaufen will. In der einstigen Durchgangshalle zum Bahnpostamt wird vier Tage nach dessen Verschwinden der leblose Körper von Berek Goldfeier entdeckt. 

Die Polizei ging von Raubmord aus, doch das erscheint Waltraud Bierwirth nach Auswertung der Ermittlungsakte unwahrscheinlich, denn "er hatte noch 1.700 Reichsmark in der Tasche". Wurde der 14-Jährige ermordet, weil er Jude war? Für die Autorin gibt es dafür ein starkes Indiz: Berek Goldfeier ist erdrosselt worden - mit einer langen, mit Fäkalien beschmutzten Unterhose. Sein Mörder wurde nie gefunden. 

Nach Kriegsende: Mehrere Morde an Juden  

Waltraud Bierwirth ist überzeugt davon, dass Juden auch nach dem Krieg ermordet wurden, weil sie Juden waren. Denn sie erfährt, dass es in Regensburg einen zweiten Mord gab, am 3. April 1947 an der Familie Brutmann: "Das ist das Ehepaar Herrsch Brutmann und seine Frau Gitla, der Bruder David und das Baby Natan", berichtet die Autorin. Eine ganze jüdische Familie wird 1947 getötet, das Baby ist damals gerade acht Wochen alt. Die Familie ist laut der Grabinschrift von Nazis ermordet worden - fast zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.  

Was ist damals passiert? Nach 75 Jahren ist Waltraud Bierwirth die erste, die die Ermittlungsakte zu dem Mord an der Familie wieder öffnet. "Die Obduktion hat dann ergeben, dass Herrsch Brutmann und seiner Frau Gitla, bevor sie ermordet wurden mit einem Beil, sehr stark in den Kopf getreten wurde", fasst Bierwirth zusammen. Die Brutalität der Täter macht auch nicht bei dem acht Wochen alten Säugling Halt: Er weist Misshandlungsspuren auf, berichtet die Autorin ihre Entdeckung in der Dokumentation von Kontrovers - Die Story, "hat eine tiefe Eindellung am Köpfchen". 

Bierwirth: Zweifel an Verurteilung im Mordfall der Familie Brutmann 

Brisant an den Mordumständen: Die Familie Brutmann lebt damals in Regensburg Tür an Tür mit einem vom Dienst suspendierten Polizisten und SS-Mann. Er sagt gegenüber der Polizei aus, die Schreie aus der Wohnung gehört zu haben. Doch niemand im Haus greift ein. 

Erneut gehen die ermittelnden Regensburger Polizeibeamten jedoch von einem Raubmord aus, obwohl lediglich eine Armbanduhr und ein wenig Schmuck fehlen. Waltraud Bierwirth recherchiert weiter - und findet heraus, dass Herrsch Brutmann Kommandant einer jüdischen Organisation war, die sich am Widerstand gegen die Nazis beteiligt hatte. Er, sein Bruder David und seine Frau Gitla waren im Ghetto von Lodz gewesen - wie auch der 1945 ermordete Berek Goldfeier.

Als Täter präsentiert die Polizei fünf Polen, sie sollen den Raubmord an der Familie Brutmann begannen haben. Drei der Polen flüchten, zwei werden verhaftet - und verurteilt. Waltraud Bierwirth hat an diesem Urteil große Zweifel, denn laut der Polizeiakte konnten keine Spuren der Polen sichergestellt werden: "Also man muss sich vorstellen: Fünf junge Männer dringen in diese Wohnung ein, in das Schlafzimmer und hinterlassen keine Fingerspuren, keinerlei Spuren."

Rolle der Regensburger Polizei im Ghetto Lodz 

Goldfeier und die Familie sind nach dem Krieg nach Regensburg gekommen und dort ermordet worden. Ist das Ghetto von Lodz eine Verbindung bei diesen Mordfällen? Mehr als 200.000 Juden waren dort eingesperrt und wurden zur Arbeit gezwungen. Bewacht wurden sie von deutschen Polizisten.   

Waltraud Bierwirth fragt sich, ob auch Regensburger Polizisten beteiligt waren. Am Institut für Zeitgeschichte in München trifft Waltraud Bierwirth den Leiter des Holocaust-Zentrums, Frank Bajohr. Zu Regensburger Polizeieinheiten gibt es bisher zwar wenig Forschung, doch man wisse inzwischen, dass die Polizei dort nicht nur an der Bewachung des Ghettos beteiligt war. Bajohr erklärt: Regensburger Polizisten seien vor allem beteiligt gewesen "bei der Deportation und Ermordung der Ghetto-Insassen im August 1944, also dem Abtransport der noch lebenden Juden in Litzmannstadt nach Auschwitz-Birkenau und ihrer Ermordung in den Gaskammern." 

Kaum einer der Polizisten ist damals dafür zur Verantwortung gezogen worden, viele waren auch nach Ende des Krieges wieder im Polizeidienst tätig. Waltraud Bierwirth wird die Beteiligung Regensburger Polizisten an den Morden in der NS-Zeit immer deutlicher: "Es waren Regensburger Polizisten, die die Menschen eskortierten in den Tod und sie schützten nicht, sondern sie mordeten." 

Regensburger Polizei: Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht aufgearbeitet  

Bis heute ist die Rolle der Polizei in Regensburg während des Zweiten Weltkriegs und danach nicht öffentlich aufgearbeitet worden. Intern schult sie ihre Mitarbeiter inzwischen in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Dabei thematisiert sie die Beteiligung der Polizei an den Morden der NS-Zeit. 

Einen Beweis für eine Begegnung im Ghetto von Lodz, die zu den Morden in Regensburg führte, hat Waltraud Bierwirth bislang nicht gefunden. Doch das Schicksal der Familie Brutmann und Berek Goldfeiers lässt sie nicht mehr los. Sie recherchiert weiter.

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