Misshandlungsopfer aus den 1970er-Jahren stehen vor der Villa Phönix (Dependance der Asthma-Kinderheilstätte) in Bad Reichenhall.
Bildrechte: Lukas Pilz / BR | Ernst Baumann / Stadtarchiv Bad Reichenhall | Montage: BR

Misshandlungsopfer aus den 1970er-Jahren stehen vor der Villa Phönix (Dependance der Asthma-Kinderheilstätte) in Bad Reichenhall.

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Misshandelt und missbraucht: Horror in Kinderkurheim

Ehemalige "Verschickungskinder" klagen an: Sie seien in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Kinderheilstätte Bad Reichenhall missbraucht worden. Wer sind die Täter? Kontrovers – die Story geht auf Spurensuche – zurück bis in die NS-Zeit.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Als Friederike Schmeller mit dem Auto in Bad Reichenhall ankommt, sitzt ihr Therapeut neben ihr im Wagen. Warum? "Weil Bad Reichenhall für mich für Todesangst stand", sagt Schmeller, "ich weiß nicht, was hier an Triggern sein wird." Trotzdem kehrt sie nach 57 Jahren zurück in die Stadt, die sie als Ort des Grauens in Erinnerung hat.

Im Oktober 1966 war Schmeller für sechs Wochen in der Asthma-Kinderheilstätte im oberbayerischen Bad Reichenhall. Früher wurden hier Kinder mit Atemwegserkrankungen behandelt. Sie war damals vier Jahre alt und reiste wie viele andere sogenannte Verschickungskinder alleine mit dem Zug an. Heute wohnt Schmeller weit weg von Bad Reichenhall. Ihr Name ist wie der aller Betroffenen geändert.

Auf "Foltertisch" gespannt und ausgepeitscht

Gewalt und sexuelle Übergriffe, daran erinnert sich Schmeller. Als Haupttäter benennt sie einen Pfleger in Springerstiefeln. "Meine erste Erinnerung war, dass er mir mit diesen Springerstiefeln mitten ins Gesicht getreten hat", sagt Schmeller. Der Missbrauchsort sei ein Keller gewesen. Es habe aber auch einen Raum mit einem "Foltertisch" gegeben. Auf diesen sei man draufgespannt und ausgepeitscht worden. "Das sind die Dinge, die ich erinnern kann", sagt Schmeller. "Aber ich habe dafür natürlich keine Beweise. Das sind meine inneren Bilder."

Im Video: Horror in Kinderkurheim in Bad Reichenhall

"Damit ich da nicht weglaufe, hat man mich fixiert"

Michael Neumayer kennt Friederike Schmeller nicht, aber er berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Er war im Frühjahr 1967 in der Kinderheilstätte in Bad Reichenhall. Das Heim wurde von der Katholischen Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising betrieben. "Bei mir sind diese sechs Wochen eigentlich komplett weg", sagt Neumayer. "Durch die Therapien kamen die einzelnen Situationen hoch." Mit einer Kette am Handgelenk sei er an der Wand festgebunden worden. Später seien die Missbrauchstäter gekommen. "Damit ich da nicht weglaufe, hat man mich fixiert", sagt Neumayer.

Im Keller habe eine "Behandlungsliege" gestanden, "eine uralte und die war eiskalt", schildert Neumayer. Darauf sei er missbraucht worden. Neben einem Pfleger erinnert er sich noch an einen weiteren Täter: Einen Arzt, "der nachts zu mir in den Keller kam, mit anderen Männern". Neumayers Vermutung: Es könnte der damalige Klinikleiter gewesen sein, Dr. Franz Braun.

Der genaue Tatort in der Klinik ist unklar

Kontrovers - Die Story hat Friederike Schmeller und Michael Neumayer nach Bad Reichenhall begleitet. Beide treffen sich dort zum ersten Mal. Sie wollen Antworten, Beweise für das Grauen, das sich in ihre Köpfe eingebrannt hat. An den Pfleger erinnern sich beide. Kräftig und stark behaart sei er gewesen, mit "riesigen Händen". Und auch der Behandlungstisch kommt in beiden Erzählungen vor. Schmeller berichtet von Schlägen mit einer Peitsche. Neumayer kann sich hingegen an Tritte erinnern, zur körperlichen Gewalt sei es nach dem sexuellen Missbrauch gekommen. An den Namen des Pflegers erinnern sich beide nicht, auch der genaue Tatort ist unklar. Neumayer berichtet von einem flacheren Nachbargebäude neben der Klinik, dort habe der Missbrauch stattgefunden.

Was sagt die Katholische Jugendfürsorge zu den schweren Missbrauchsvorwürfen? Auf Anfrage heißt es, "dass wir es zutiefst bedauern, dass es in Einrichtungen der KJF München und Freising, Fälle von (sexualisierter) Gewalt und sexuellem Missbrauch gab".

Stadtarchiv: Kein Nebengebäude dokumentiert

Friederike Schmeller und Michael Neumayer besuchen den Ort in Bad Reichenhall, wo früher die Asthma-Kinderheilstätte stand. Sie wurde inzwischen abgerissen, heute befindet sich dort ein Parkplatz. Schmeller und Neumayer vergleichen alte Fotos. Die Berge im Hintergrund, die Baumgrenze, alles wie früher - nur die Klinik steht nicht mehr und auf den Fotos ist kein Nebengebäude zu erkennen.

Ein Treffen mit dem Stadtarchivar von Bad Reichenhall, Johannes Lang, soll Aufschluss geben. Er hat noch alte Pläne und Fotos der Asthma-Kinderheilstätte. Lang breitet den Grundriss der Klinik aus: "Wir haben den größten Teil des Gebäudes nicht unterkellert. Aber hier gab es eben zwei Keller", sagt Lang, während er auf die Pläne zeigt. Von dem Anbau, von dem Neumayer berichtet, liegen dem Archivar keine Pläne vor. Und auch ein Foto des Klinikleiters gibt es nach Aussage von Lang nicht im Archiv.

Bis zu 70.000 Kinder wurden wohl in der Klinik behandelt

Lang schätzt, dass zwischen 1948 und 1986 rund 60.000 bis 70.000 Kinder in der Asthma-Kinderheilstätte Bad Reichenhall behandelt wurden. Kinderkuren gab es auch schon unter den Nazis. "Es gibt Studien, wonach erkennbar ist, dass Leute, die dann Heime geführt haben, auch während der NS-Zeit eine bestimmte Rolle gespielt haben", sagt Lang.

Kontrovers - Die Story hat im Zuge der Recherchen zusammen mit report München mit weiteren Betroffenen gesprochen. Anna Mayer war 1974 auf Kur in Bad Reichenhall. "Es waren sechs Wochen Hölle. Von Anfang an Hölle. Bis zum Ende", sagt Mayer. Auch sie erinnert sich an Dr. Franz Braun, der die Klinik seit 1948 leitete. Von ihm sei sie nicht vergewaltigt worden, dafür von mehreren anderen Männern. Alte Abrechnungen belegen, dass Mayer direkt nach ihrer Kinderkur wegen einer Geschlechtskrankheit in Behandlung war. Mayer vermutet, dass es unter dem Personal Menschen mit NS-Verstrickungen gab: "Das war eindeutig schwarze Erziehung."

Bundesarchiv liefert Antwort über Brauns Vergangenheit

Wer war Klinikleiter Dr. Franz Braun? Eine Anfrage an das Bundesarchiv bringt die Antwort. Dort gibt es noch eine Personalakte aus Brauns Studentenzeiten. Darin steht: "Erster Eintritt in eine Gliederung der NSDAP: 1933. Gliederung: SS." Noch im Jahr der Machtergreifung Hitlers war Braun in die NSDAP und in die SS eingetreten, ausgebildet wurde er zum Militärarzt. Anna Mayer ist fassungslos: "Wenn man jemanden einstellt als Arzt, da guckt man doch mal in die Akte rein, wo der vorher gearbeitet hat."

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Nazi-Akten damals für Institutionen wie die Katholische Jugendfürsorge nicht zugänglich waren. Was aber wusste der Verband über den Arzt? Die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising teilt auf Anfrage von Kontrovers mit, man werde der Frage nachgehen, wie der Verband mit dem Thema NS-Vergangenheit von Mitarbeitenden umgegangen sei. "Allerdings können wir das aktuell nicht leisten", heißt es in der schriftlichen Antwort, ein Zeitplan für die Aufarbeitung könne nicht benannt werden.

Bei einem weiteren gemeinsamen Treffen erfahren auch Friederike Schmeller und Michael Neumayer von den neuen Unterlagen. Neben dem Beleg für die NS-Vergangenheit von Franz Braun ist noch etwas in der Akte des Bundesarchivs: ein Foto des späteren Klinikleiters. War er einer der Missbrauchstäter? Nach einem Blick auf das Bild sagt Neumayer: "Ja. Die Gesichtszüge – eindeutig." Über zehn Jahre habe er nach dieser Person gesucht und keine Informationen bekommen. Nun gibt es dieses Foto.

Schmeller: "Ich habe zwar überlebt, aber..."

Beide Betroffene wussten nicht, dass die Klinik von einem Mann mit NS-Vergangenheit geleitet wurde. "Mir verschlägt es regelrecht die Sprache", sagt Schmeller. "Weil dieser Mensch, der das zu verantworten hat, mir mein Leben genommen hat. Ich habe zwar überlebt, aber die Qualität des Lebens ist überhaupt nicht in Worten zu beschreiben." Kein Geld der Welt könne ihr Leid wiedergutmachen, sagt Friederike Schmeller. Michael Neumayer hingegen hat den sexuellen Missbrauch schon vor sieben Jahren bei der Katholischen Kirche angezeigt. Bislang hat er 10.000 Euro für Therapiekosten bekommen. Er fordert von der Kirche eine Entschädigung in einer Größenordnung von 750.000 bis einer Million Euro.

Beide Betroffene fordern, dass die Katholische Kirche die Vergangenheit nun aufarbeitet.

Dieser Artikel ist erstmals am 15. November 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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