Ein Kind vergräbt der Kopf in den Armen
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Symbolbild: Ein Kind vergräbt der Kopf in den Armen

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Gedemütigt, geschlagen, missbraucht: Albtraum Kinderkurheim

Schläge, Missbrauch oder Essenszwang – davon berichten ehemalige Kurkinder. Bis in die 1990er-Jahre wurden etwa acht Millionen Kinder deutschlandweit in Kinderkurheime geschickt, oft nach Bayern. Jetzt beginnt langsam eine Aufarbeitung dieser Zeit.

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Tanja hat Herzrasen, als sie aus dem Auto steigt. Sieben Stunden war sie unterwegs, um noch einmal an den Ort zurückzukehren, an den sie ihre Eltern 1983 geschickt hatten. Im Kinderkurheim Haus Schmalensee sollte sie zunehmen, sechs Wochen lang. Doch sie kehrte traumatisiert aus Mittenwald zurück. Tanja holt einen Teddy im orangefarbenen Strampelanzug vom Autorücksitz: Damals, als Sechsjährige, war das Kuscheltier ihr einziger Begleiter.

Heimweh, Essenszwang, Gewalt

Lange hat sich Tanja nicht getraut, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Erst vor kurzem wurde ihr klar, dass nicht nur sie solche Erfahrungen gemacht hat. Die "Initiative Verschickungskinder" hat nach eigenen Angaben bereits etwa 5.000 ausführliche Erfahrungsberichte gesammelt: Viele berichten von Heimweh, aber auch von Gewalt und Essenszwang während des Kuraufenthalts.

Ein weiterer Zeitzeuge begleitet Tanja zum Haus Schmalensee: Jürgen wurde im Kindergartenalter von den "Tanten" im Kinderkurheim vormittags betreut, weil seine Mutter dort in der Küche arbeitete. Tanja und Jürgen erinnern sich beide daran, vom Personal im Haus Schmalensee geschlagen worden zu sein. Jürgen sagt, er leide noch heute darunter. Deshalb möchten beide nur ihre Vornamen nennen.

Vor Ort kommen Erinnerungen hoch

Tanja und Jürgen umrunden das Gelände, der Garten sieht verwildert aus. Sie haben alte Postkarten dabei. Die Gebäude des Haus Schmalensee stehen seit vielen Jahren leer. Von außen wirken sie heruntergekommen, überall hängen Spinnweben. Bei Tanja kommen viele Erinnerungen hoch: Zur Strafe für Bettnässen sei sie eiskalt mit einem Gartenschlauch abgeduscht worden – mit einem sehr harten Strahl.

"Wir mussten uns nackt ausziehen. Man hat uns sehr weh getan, man durfte sich auch nicht wegdrehen, die haben überall hin gespritzt. Ein anderes Mädel und ich, wir lagen zusammengekrümmt auf dem Boden. Die Tanten haben dann alle Kinder gerufen und die mussten dann auf uns einschlagen." Tanja, ehemaliges Verschickungskind

Schläge mit nassen Handtüchern "um Durchblutung zu fördern"

Jürgen erzählt, seine Mutter habe sich in den 1970er-Jahren beim zuständigen Gesundheitsamt Garmisch-Partenkirchen beschwert, unter anderem, weil eine "Tante" die Kinder im Haus Schmalensee mit nassen Handtüchern auf den nackten Körper geschlagen habe – angeblich, "um die Durchblutung zu fördern."

Ehemaliger Heimleiter hat "gute Erinnerungen"

Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen erklärt auf BR-Anfrage, man habe keinerlei Unterlagen mehr zum Haus Schmalensee und könne daher "nicht weiterhelfen." Der ehemalige Heimleiter des Haus Schmalensee lebt heute in einem Altersheim. Am Telefon sagt er, er habe gute Erinnerungen und streitet sämtliche Vorwürfe ab.

Betrieben wurden Heime wie das Haus Schmalensee teils von Privatleuten, teils von den Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden wie zum Beispiel der AWO. Der bayerische Landesvorsitzende Thomas Beyer kündigte ein eigenes Projekt zur Aufarbeitung an, dafür würden noch Zeitzeugen gesucht – und zwar explizit auch ehemalige Mitarbeiter der Kinderkurheime: "Wir wollen verhindern, dass sich Beschäftigte unter Generalverdacht fühlen", sagt Beyer dem BR.

Erbrochenes aufessen

Die "Initiative Verschickungskinder" zählt etwa 215 Kindererholungsheime in Bayern, das wäre ein Viertel aller Heime deutschlandweit. Die verschickten Kinder waren zwischen zwei und 14 Jahre alt. Rund 20 Zeitzeugen aus verschiedenen bayerischen Kinderkurheimen berichteten dem Bayerischen Rundfunk von traumatischen Erfahrungen: von sexuellem Missbrauch oder davon, ins Zimmer eingesperrt worden zu sein. Oder, dass sie zum Essen gezwungen wurden und das eigene Erbrochene aufessen mussten.

SPD fordert Studie zur Aufarbeitung

Die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag fordert nun von der Bayerischen Staatsregierung, dass die Geschichte der Kinderkurheime in Bayern in einer Studie systematisch aufgearbeitet werden soll. Die sozial- und familienpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion Doris Rauscher will dadurch herausfinden, wie viele Verschickungskinder damals schlechte Erfahrungen gemacht haben und welche Hilfen die Betroffenen brauchen, etwa Therapien oder finanzielle Unterstützung. Am Donnerstag wird im Sozialausschuss des Bayerischen Landtags über den SPD-Antrag entschieden.

Eventuell soll es eine bundesweite Studie geben

Das Bayerische Sozialministerium verweist auf Pläne der Jugend- und Familienministerkonferenz für eine bundesweite Studie zum Thema. Auf BR-Anfrage schreibt eine Sprecherin, detaillierte Erkenntnisse zu den Missständen aus Kinderkurheimen seien nicht bekannt, nur "einzelfallbezogene Hinweise auf unzureichende Versorgung, Zwang, herabwürdigendes Verhalten und Missbrauch". Man habe die bayerischen Heimaufsichten dazu aufgefordert, die Akten zu Kinderkurheimen zu sichern.

Viele Unterlagen sind vernichtet

Viele Unterlagen sind mittlerweile vernichtet, aber in bayerischen Archiven existieren noch Akten zu Kinderkurheimen: auch über Ermittlungsverfahren gegen Heimpersonal, sowie eine Verurteilung einer Heimleitung wegen "Misshandlung Schutzbefohlener".

Die beiden Zeitzeugen Tanja und Jürgen wünschen sich eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Kinderkurheime: "Ich bin ja eine von Millionen", sagt Tanja: "Und ich will, dass es für andere Betroffene auch aufgeklärt wird."

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