Der Kirchentag mit seinen Zehntausenden Teilnehmenden ist immer wieder ein großes Glaubensfest. Fast entsteht der Eindruck einer heilen Kirchenwelt. Doch der Eindruck trügt. Die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland hat laut Statistik Rekordniveau erreicht. 2022 sind 380.000 Menschen aus der Evangelischen Kirche ausgetreten. Das sind ein Drittel mehr als im Jahr davor.
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Nürnberger Initiative will Kirchenaustritte ergründen
Eine neue Initiative aus Nürnberg fordert, dass die Kirche verstärkt auf die Menschen zugeht, die der Kirche fernstehen – ob sie bereits ausgetreten sind oder nicht. Am Samstag hat die Gruppe aus Bayern ihr Projekt am Rande des Kirchentags in Nürnberg vorgestellt. Ihr gehört auch die frühere Bundesfamilienministerin Renate Schmidt an. Die Nürnbergerin engagiert sich dafür, die Menschen wieder ins Boot zu holen, die gläubig sind, aber mit der Kirche derzeit kaum etwas anfangen können.
Renate Schmidt bezeichnet sich als gläubige Christin, hat aber mit der Kirche und auch deren Lehren manche Probleme. Mit ihren Vorbehalten sieht sie sich längst nicht alleine. "Viele derer, die mit der Kirche nichts mehr am Hut haben oder noch drin sind oder diejenigen, die ausgetreten sind, bezeichnen sich nach wie vor als gläubig und viele davon als gläubige Christen", sagt Schmidt.
Ursachen für Kirchenaustritte herausfinden
Gemeinsam mit einigen Weggefährten aus Politik und Kirche hat sich Schmidt vorgenommen, den Ursachen, warum Christen aus der Kirche austreten, genauer auf den Grund zu gehen. Keine Kirchensteuer mehr zahlen zu wollen, das sei meist nicht der alleinige Grund, meint sie. Oft lägen Glaubenszweifel, Kritik am Zustand der Kirche oder an den Missbrauchsskandalen dahinter. Doch auch hier sei genauer nachzufragen: "Wir wollen etwas über die Austrittsgründe erfahren, weil dann wissen wir auch, was zu ändern wäre. Und zum anderen wollen wir erfahren, was ist den Menschen denn wichtig? Und wie müsste Kirche aussehen, damit sie sich dort zuhause fühlen?“
Internet-Blog "Christen ohne Kirche"
Die Initiative hat eine Internetseite mit dem Blog "Christen ohne Kirche" gestartet. Dort können Kirchenfremde mitteilen, was sie an der Kirche stört. Auch Diskussionen in Präsenz und im Hybridformat sollen angeboten werde, sagt Lutz Egerer, der das Webangebot "Christen ohne Kirche" aufgebaut hat: "Was sich draus entwickelt, ist das Spannende. Das wird man sehen. Aber ich denke, einfach mal da zu sein: Wir haben Augen und Ohren für euch und kommt einfach her. Das denke ich, war unser wichtiges Signal."
Lösungen anbieten, auch für ausgetretene Kirchenmitglieder
Egerer, der hauptberuflich in der Kirchenverwaltung arbeitet, will die Gründe für Kirchendistanz und Verbesserungsvorschläge mit der Zeit dokumentieren und schließlich an die Kirchen weitergeben. Die sollen dann – mit dem Druck von vielen Ausgetretenen – Lösungen finden. Etwa eine, wie es sie in mancher Kirchengemeinde schon gebe, wenn ein Ausgetretener Taufpate werden will, berichtet Initiativen-Mitglied Manfred Scholz: "Da gibt's eine Zwischenlösung, die die Kirche anbietet. Und die sagt dann Taufzeuge statt Taufpate, das heißt, er bezeugt nur, dass es so ist, aber verpflichtet sich nicht: 'Ich werde dich im christlichen Glauben erziehen oder führen'."
Kirchentage müssen Zweiflern Angebote machen
Ein Beispiel wie dieses sei auch Stoff, den Kirchentage aufgreifen müssten, fordert der frühere Landtagsabgeordnete Scholz. Beim Kirchentagspräsidenten Thomas de Maizière rennt er da unerwartet offene Türen ein. Der Evangelische Kirchentag befinde sich mit Blick auf Kirchenferne bereits in einem Reformprozess, sagte de Maizière dem Bayerischen Rundfunk: "Für uns als Kirchentag ist es schon mal leichter und auch eine Verpflichtung, zumindest diejenigen beim Wort und ernst zu nehmen, die sagen 'Kirche nein, Glaube ja. Institution nein, moderne Form von Gottesdienst ja'. An sich sind wir die geborene Plattform für diese kritischen Menschen. Und wir können das glaube ich auch, aber wir müssen sie erreichen und einladen, zu uns zu kommen oder wir müssen besser zu ihnen kommen."
Im Programm des Nürnberger Kirchentags waren solche Angebote allerdings kaum zu finden. Der Kirchentagspräsident nennt als Beispiel ein Podium, auf dem auch ein Religionssoziologe und ein Zen-Meister vertreten waren. De Maizière sieht es denn auch als Auftrag für den nächsten Kirchentag, Menschen mit Distanz zur Kirche gezielt mehr Angebote zu machen.
Im Video: Waffen für den Frieden?
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