Kinderkrippe in oberbayerischem Grafrath: Verdachtsfall zeigt, wie schwierig die Aufklärung ist.
Bildrechte: Volker Gabriel/BR

In einer oberbayerischen Krippe soll es 2019 zu Schlägen, Strafen und seelischer Gewalt gegen Kleinkinder gekommen sein.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Tatort Kita: Wenn Kinder ohne Schutz dastehen

Wie schwierig es ist, einen Verdacht auf Gewalt in Kindertagesstätten aufzuklären, zeigt ein Fall aus Oberbayern. Träger, Jugendamt und Ermittlungsbehörden haben nicht konsequent gehandelt, wie BR-Recherchen belegen.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Julia Maletz wird den Augustabend in den Sommerferien 2019 nie vergessen. Sie macht ihren damals dreijährigen Sohn bettfertig, als er anfängt zu weinen und fragt, ob er wieder in die Krippe muss: "Und dann erzählte er, dass er grob angefasst wurde. Er konnte es zeigen, wo er am Arm und auf dem Kopf gehauen wurde. Und er wurde als Blödmann beschimpft." Julia Maletz' Sohn muss nicht mehr in die Kinderkrippe Rassobande in Grafrath, er wechselt in den Kindergarten. Aber andere Kinder könnten Ähnliches erlebt haben, und so vertraut sich Julia Maletz einer befreundeten Mutter an. Auch deren Sohn schildert, dass er geschlagen wurde. Auf den Kopf. Wenn er nicht essen wollte.

Ermittler: Verdacht bei zwölf Kindern

Auch andere Eltern tauschen sich 2019 aus. Ihnen sind Veränderungen an ihren ein- bis dreijährigen Kindern aufgefallen: Ein nicht mal zweijähriger Junge verweigert plötzlich das Duschen, ein anderer Bub will nicht mehr auf die Toilette. Kinder stellen sich unaufgefordert in die Ecke, wenn jemand die Stimme erhebt und heben dabei zum Teil schützend die Hände über den Kopf. Das erzählen mehrere Eltern.

Einige Kleinkinder versuchen sich mitzuteilen. "Tina haut", sagen sie. Sie meinen die damalige Leiterin der Kinderkrippe Martina S. (Name von der Redaktion geändert). Nach Informationen von BR Recherche haben sieben Kinder angegeben, von ihr geschlagen worden zu sein. Ermittler gehen später von zwölf betroffenen Kindern aus. Auf BR-Anfragen reagieren weder Martina S. noch ihr Anwalt. Der Träger der Kinderkrippe, FortSchritt, schreibt, ihm seien die meisten Vorwürfe nicht bekannt und Schläge nicht belegt.

"Kindeswohl wiegt immer mehr als Schweigepflicht"

Einige Erzieherinnen im Fall Grafrath verweisen bis heute auf die Schweigepflichtserklärung, die sie unterschrieben haben. Die ändere nichts an der gesetzlichen Meldepflicht, erklärt Veronika Lindner vom Verband Kita-Fachkräfte Bayern: "Das Kindeswohl wiegt immer mehr als die Schweigepflicht. Wenn eine Grenzüberschreitung besteht, dann ist man in der Pflicht, die anzuzeigen."

FortSchritt schreibt dem BR, man habe viele Zuständigkeiten geändert und unter anderem Vertrauensstellen geschaffen, an die Mitarbeitende sich wenden können.

Hat der Träger Hinweise ignoriert?

Bereits im Juni 2019 berichten drei Erzieherinnen dem Träger von einem Vorfall im Wickelraum, das geht aus nichtöffentlichen Unterlagen hervor, die dem BR zugespielt wurden: Ein kleiner Junge hat sich in die Hose gemacht, Martina S. soll ihn daraufhin ins Bad gezerrt, gedroht haben, ihn kalt abzuduschen und ihn grob gereinigt haben.

Ende Juli 2019 springt Janine Beier-Seifert in Grafrath ein, die Erzieherin arbeitet damals in einer anderen Einrichtung desselben Trägers. Nach nur einem Tag in der Kinderkrippe Rassobande alarmiert sie ihren Arbeitgeber: Kinder würden beschimpft und grob angepackt, zum Wohle der Kinder müsse schnell etwas passieren. Die Mail liegt dem BR vor.

Trotzdem schreibt FortSchritt auf Anfrage, man habe erst am 31. Oktober 2019 vom Verdacht der Kindeswohlgefährdung erfahren. Damals hätten sich Eltern gleichzeitig an den Träger und die zuständige Kita-Aufsicht im Jugendamt Fürstenfeldbruck gewendet. Es habe "keine Verzögerungen bei der Meldung und dementsprechend auch keine daraus resultierenden Konsequenzen" gegeben, schreibt FortSchritt dem BR. Von der Kita-Aufsicht dagegen heißt es, man habe den Träger deswegen verwarnt.

Kita-Aufsicht Fürstenfeldbruck bleibt hinter eigenen Ansprüchen zurück

Nach BR-Recherchen, die auch unter 11KM: der tagesschau-Podcast nachzuhören sind, haben sich Eltern bereits im Sommer 2019 auch an die Kita-Aufsicht gewendet. Das bestätigt das Jugendamt Fürstenfeldbruck und erklärt, die Kinder der Familien seien damals nicht mehr in der Krippe gewesen. Es kommt deshalb zum Schluss: "Eine aktuelle Gefährdung von Kindern lag nicht vor." Erst auf Nachfrage räumt die Kita-Aufsicht eine weitere, anonyme Meldung vom 1. August 2019 ein. Auch auf diese hat die Kita-Aufsicht nicht reagiert, erst am 5. November 2019 sind Mitarbeitende vor Ort in der Kinderkrippe.

Damit bleibt die Aufsichtsbehörde hinter eigenen Vorgaben zurück: BR Recherche hat Kita-Aufsichten in Bayern gefragt, wie sie in einem ähnlich gelagerten Fall vorgehen würden. Von der zuständigen Kita-Aufsicht in Fürstenfeldbruck heißt es dazu: "Zuerst würde eine Stellungnahme des Trägers angefordert und gleichzeitig angeordnet, dass die betroffene pädagogische Kraft nicht mehr mit Kindern arbeiten darf, bis der Sachverhalt endgültig aufgeklärt ist und eine abschließende Beurteilung möglich ist. Sowohl die Eltern, als auch das pädagogische Personal würden befragt."

Tatsächlich aber ordnet das Jugendamt erst im November 2019 an, dass Martina S. nicht mehr alleine mit Kindern arbeiten darf. Da hat die Krippenleiterin die Einrichtung bereits verlassen. Eltern befragt das Amt nicht, es verweist auf einen Elternabend in der Kinderkrippe. Im Januar 2020 befragen Behördenmitarbeiter Martina S.. Ansonsten verlässt sich die Behörde auf den Träger, der Aussagen seiner Mitarbeitenden bündelt und der Kita-Aufsicht übergibt.

Kita-Aufsichten sind teils überlastet und arbeiten uneinheitlich

Anfang März hat BR Recherche eine Umfrage unter den 103 Kita-Aufsichtsbehörden in Bayern durchgeführt, 77 nahmen teil. Das Ergebnis: 37 Behörden geben an, sie können ihre Aufgaben nicht komplett erfüllen. Acht Kita-Aufsichten verfügen nach eigenen Angaben nur über bis zu zehn Stunden pro Woche. Hinzu kommen unbesetzte Stellen und ein stetig wachsender Aufgabenbereich, schreiben viele dem BR.

Die Angaben in der Umfrage zeigen auch, wie unterschiedlich Kita-Aufsichten im Freistaat vorgehen: Besteht wie in Grafrath der Verdacht, dass Kita-Personal Kindern gegenüber übergriffig oder sogar gewalttätig geworden ist, befragen 30 von 77 Teilnehmern der Umfrage Eltern und Erzieherinnen. Zehn weitere befragen entweder Personal oder Erziehungsberechtigte oder nur sich meldende Personen. Einige Kita-Aufsichten schreiben dem BR, sie seien keine Ermittlungsbehörde.

Kinderrechtlerin rügt "Flickenteppich"

Das bayerische Sozialministerium hat die Rechtsaufsicht und verweist auf Anfrage auf die kommunale Selbstverwaltung: Die Aufsichtsbehörden seien selbst für ihre Arbeitsorganisation zuständig. Das Ministerium könne keine Vorgaben machen.

Das sieht die Juristin Linda Zaiane-Kuhlmann vom Deutschen Kinderhilfswerk anders: Sie fordert vom Freistaat, die Kita-Aufsichten mit ausreichend Ressourcen auszustatten. Jede Behörde müsse zudem Sachverhalte selbst überprüfen. Dass die Aufsichtsbehörden nicht einheitlich und gemäß den Vorgaben arbeiten, ist für die Kinderrechtlerin nicht hinnehmbar: "Zusammenfassend kann man von einem Flickenteppich sprechen. Es kann nicht sein, dass die Umsetzung des Kindeswohls vom Zufall abhängt, bzw. vom Wohnort eines Kindes."

Fall Grafrath: Ermittlungsverfahren trotz Lücken eingestellt

Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt, nachdem mehrere Eltern Anzeige erstattet haben, wegen des Verdachts auf Misshandlung Schutzbefohlener und möglicher vorsätzlicher Körperverletzung gegen Martina S.. Im Juni 2021 wird das Ermittlungsverfahren eingestellt. Damit gilt für Martina S. weiterhin die Unschuldsvermutung. In den Einstellungsbescheiden werden folgende Gründe genannt: Die Eltern seien Zeugen vom Hörensagen, die Kinder seien noch nicht auskunftsfähig und objektive Beweise wie etwa Kameraaufzeichnungen gebe es nicht.

BR-Recherchen belegen Ermittlungslücken: Lediglich vier Mitarbeiterinnen der Kinderkrippe werden befragt. Personal, das regelmäßig mit Martina S. zusammenarbeitete, ist nicht darunter. Eine Erzieherin hat einen Termin für eine Zeugenaussage, aber der Vernehmungsbeamte ist krank, sie wird nicht befragt. Mindestens eine Familie hat erlaubt, dass ihre Kinder durch Experten befragt werden. Es meldet sich niemand.

Viele Eltern sind fassungslos, zumal sie teils bis heute Folgen bei ihren Kindern sehen. Sie wünschen sich, dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen überprüft. Nach den Anfragen von BR Recherche reagiert die Staatsanwaltschaft. Sie will nun noch weitere Zeugen vernehmen.

Video: Kontrolldefizit - Gewalt gegen Kita-Kinder

Symbolbild: Gewalt gegen Kinder
Bildrechte: picture alliance / photothek | Ute Grabowsky
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

In einer Kinderkrippe in Grafrath soll es 2019 zu Gewalt gegen Kleinkinder gekommen sein. Kita-Kontrollen unterscheiden sich in Bayern teils sehr

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Wenn Sie Missstände melden wollen, können Sie sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: brrecherche@br.de