Spielzeug und Stifte in einer Kita
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Kommunen schlagen Alarm: Personalmangel führt zu Kita-Notstand

Die bayerischen Kommunen warnen vor einem "Notstand in der Kinderbetreuung". Der Grund: viel zu wenige Fachkräfte. In vielen Städten ist die Krise bereits da. Mancherorts fehlen über 1.000 Betreuungsplätze.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Oberbayern am .

Die "Kleine Welt" in Ingolstadt ist nicht mehr in Ordnung. In den geräumigen Gruppenzimmern mit ihren Mal- und Kuschelecken werden ab Herbst ein Drittel weniger Kinder spielen. Für die knapp 30 Buben und Mädchen, die in die Schule kommen, dürfen keine anderen Kinder nachrücken, weil das Personal fehlt.

Fachkräfte fehlen überall in Bayern

Insgesamt gibt es in Ingolstadt für rund 200 Kinder ab September kein gesichertes Betreuungsangebot. Fachkräfte sind nahezu in allen großen Städten rar: In Augsburg fehlen deshalb laut bayerischem Städtetag sogar rund 1.500, in Regensburg 950 und in Würzburg 700 Kitaplätze. Vor dem Notstand hatten vor Kurzem bereits die Gewerkschaft Verdi und eine Studie der Bertelsmann Stiftung gewarnt.

Viele Eltern sind verzweifelt

Zahlreiche Väter und Mütter wenden sich in Ingolstadt an Elternbeirätin Rebecca Kurtlugil. Viele von ihnen sind schlicht verzweifelt. "Eine Katastrophe. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht gegeben. Die Familien müssen einen Riesen-Spagat schaffen", fasst die Elternbeirätin die Stimmung zusammen.

Betroffen davon ist auch Vater Stephan Nick. Er weiß nun nicht, wer seinen kleinen Sohn ab Herbst betreuen soll, denn eigentlich wollte seine Frau wieder als Grundschullehrerin arbeiten. Für ihn ist der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz "nur ein Stück Papier", das für ihn aber aktuell "nichts wert" sei.

Hohe Geburtenrate trifft auf zu wenig Kita-Personal

Die Ursachen für die große Nachfrage sind die hohe Geburtenrate sowie die vielen Zuzüge. Ingolstadt ist attraktiv für Arbeitnehmer, zumindest so lange sie ihre Kinder gut betreut wissen.

Oberbürgermeister Christian Scharpf (SPD), selbst vierfacher Familienvater, weiß um die Bedeutung dieses sozialen Faktors. Seine Kommune hat in den vergangenen zwei Jahren kräftig Kindergärten gebaut und rund 700 zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen, doch nicht alle können mit Leben gefüllt werden.

Ingolstadt zahlt 300 Euro mehr für Erzieher

Der Grund: Es fehlt an Personal, vor allem an Erzieherinnen und Erziehern, an Kinderpflegerinnen und Kinderpflegern. Daran ändert auch die frisch eingeführte Arbeitsmarktzulage der Kommune nichts. Damit hatte der Ingolstädter Stadtrat beschlossen, jeder Erzieherin ab September 2022 monatlich einen Bonus von rund 300 Euro extra zu bezahlen, sehr zum Ärger der umliegenden Kommunen, die diese Zulage nicht zahlen wollen.

OB fordert Maßnahmen vom Freistaat

Oberbürgermeister Christian Scharpf sieht die kommunalen Möglichkeiten ausgeschöpft. Für ihn ist nun die Staatsregierung am Zug. "Sie muss die rechtlichen Rahmenbedingungen ändern!", erklärt der Jurist. In einem Schreiben an Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf fordert er: "Wir müssen den Fachkräftebegriff ändern. Wir haben jetzt nicht die Möglichkeit, studierte Pädagogen mit Bachelorabschluss als Fachkräfte in Kitas einzustellen."

Der Oberbürgermeister verlangt zudem, dass Hilfs- und Assistenzpersonal im Anstellungsschlüssel des Bayerisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes anzurechnen. "Wir haben nicht die Möglichkeit, dass uns die Hilfs- und Ergänzungskräfte oder die Assistenzkräfte im Anstellungsschlüssel angerechnet werden. Auch das verhindert, dass Gruppen eröffnet werden können."

Kostenfreie Kinderpflege-Ausbildung gefordert

Der Oberbürgermeister fordert zudem eine kostenfreie Ausbildung an den Fachschulen für Kinderpflege. Für Scharpf wirkt das Schulgeld abschreckend: "Wenn eine Auszubildende zur Kinderpflegerin monatlich rund 170 Euro für ihre Ausbildung selbst bezahlen muss, ist das ein untragbarer Zustand." Das sei "Gift für die Attraktivität dieses Berufes".

Adelinde Schmid, Leiterin des Amts für Kinderbetreuung und vorschulische Bildung in Ingolstadt, sieht das genauso. Sie tauscht sich mit ihren Kollegen in anderen bayerischen Städten aus und weiß, dass ihnen das Problem der fehlenden Betreuungsangebote genauso unter den Nägeln brennt: "Die Kommunen fühlen sich im Moment ein Stück allein gelassen", sagt sie.

Sie meint, das Ministerium könnte schon an ein paar Stellschrauben drehen: Es könnte etwa großzügiger bei der Berufsanerkennung sein. "Wir wünschen uns insgesamt, dass sich der Freistaat Bayern noch stärker finanziell beteiligt, zum Beispiel bei der Bezahlung von Springerinnen oder auch von Küchenkräften." Diese Kosten zahlen die Träger im Moment alleine.

  • Zum Artikel: Erzieher-Ausbildung - Verkürzt und jetzt auch bezahlt

Bald könnten 67.000 Fachkräfte fehlen

Breite Unterstützung erfahren Ingolstadts Rathauschef und seine Amtsleiterin von den vier kommunalen Spitzenverbänden in Bayern. Gemeinsam haben sich die bayerischen Gemeinden, Städte, Landkreise und Bezirke in einem Brandbrief an Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf gewandt. Der gemeinsame Hilferuf führt der Ministerin den drohenden Notstand in der Kinderbetreuung vor Augen.

Die Spitzenverbände zitierten den Fachkräfte-Radar 2022 der Bertelsmann Stiftung. Der geht für Bayern davon aus, dass im schlimmsten Fall bis 2030 rund 67.000 Fachkräfte für Kitas und Grundschulkinderbetreuung fehlen könnten. Um den abzuwenden, fordern die Kommunen die Unterstützung durch den Freistaat Bayern ein.

Kommunen: Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Gefahr

Eine Blitzlichtumfrage bei den Kommunen habe nicht nur einen drastischen Mangel an Fachkräften bestätigt, sondern auch eine erhebliche Unterfinanzierung bei den Investitionen. Hinzu komme die fehlende Planungssicherheit, mit welcher staatlichen Förderung von Bund und Land die Kommunen beim Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter rechnen können.

Angesichts all dieser Faktoren sehen sich die Kommunen "nicht in der Lage, den ab Mitte 2026 bestehenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter unter den derzeitigen Rahmenbedingungen umzusetzen", schreiben die vier kommunalen Spitzenverbände an Sozialministerin Scharf.

Um diesen Notstand abzuwenden, fordern sie finanzielle Zusagen des Freistaats Bayern und des Bundes, die Erweiterung des Zuschusses zum Elternbeitrag sowie "pragmatische Lösungen zum Personaleinsatz" mit leichterem Zugang zu Weiterbildungen und der Anerkennung und Förderung von Fachkräften. Außerdem sollen durch sogenanntes "Platzsharing" mehr Kapazitäten geschaffen werden.

Sozialministerium: "Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe flächendeckend"

Auf Nachfrage des BR räumt das Sozialministerium die Misere unumwunden ein: "Der Fachkräftemangel in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe ist flächendeckend zu beobachten." Allerdings hat das Ministerium keine Vorstellung von dem numerischen Ausmaß des Kita-Notstands in den einzelnen Kommunen. Anders der bayerische Städtetag: Ihm zufolge fehlen nicht nur in Ingolstadt zum neuen Kindergartenjahr ab September rund 200 Plätze. In Neuburg an der Donau mangelt es an rund 50 Plätzen. Der Bayerische Städtetag nennt weitere Zahlen, basierend auf Schätzungen der Kommunen:

  • Augsburg: 1.500 Plätze fehlen, insgesamt 350 Fachkräfte fehlen, digitales Anmeldeverfahren wurde eingeführt.
  • Bayreuth: 200 bis 250 fehlende Plätze, Bauprojekte von freien Trägern wegen Finanzierung problematisch
  • Erlangen: 100 fehlende Plätze, Krippen: 81 Plätze, es gibt Räume, aber kein Personal
  • Würzburg: 700 Kinder haben aktuell keinen Platz.
  • Regensburg: 950 unversorgte Kinder in Krippe- und Kindergarten
  • Landshut: 500 Plätze fehlen, Großtagespflege wurde stark ausgebaut, sehr schwierige finanzielle Situation, wenig Möglichkeiten für Kita-Neubauten, Fachkräftemangel
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Überall in Bayern fehlen Betreuungsplätze für Kinder.

Sozialministerium sieht erste Erfolge

Ohne den aktuellen Kitaplatzmangel beziffern zu können, verweist das Sozialministerium auf "erste Erfolge". So habe sich die Zahl der Beschäftigten in den bayerischen Kitas von rund 64.000 in 2011 auf über 110.000 in 2021 um rund 73 Prozent gesteigert. Im Kampf gegen den anhaltend massiven Fachkraftmangel setzt das Ministerium auf ein "neues modulares Gesamtkonzept zur Fachkräftegewinnung im Bereich der beruflichen Weiterbildung". Die sollen den Quereinstieg leichter machen.

Doch dieses modulare Gesamtkonzept läuft nur langsam an. Ingolstadt hat bislang noch nicht davon profitieren können, so Oberbürgermeister Scharpf.

Ministerium sieht Verantwortung bei den Kommunen

Mit Blick auf die Kritik aus Ingolstadt verweist das Ministerium darauf, dass die Stadt Ingolstadt als Träger der öffentlichen Jugendhilfe bereits weitgehende Möglichkeiten habe, als Aufsichtsbehörde auch fachfremde Personen anzuerkennen.

In Ingolstadt hält der Oberbürgermeister dagegen: Dieses Argument sei nur für einen kleinen Teil der Kindergärten zutreffend, nämlich für die Einrichtungen mit freien Trägern. Gut zwei Drittel der Kitaplätze in Ingolstadt bewirtschaftet aber die Stadt selbst. "Und wir sind ja nicht selber unsere eigene Aufsichtsbehörde. Also, da ist der Freistaat Bayern tatsächlich auch zuständig."

Insgesamt ist Ingolstadts Oberbürgermeister Christian Scharpf mit der Antwort aus München nicht zufrieden. Er weiß noch immer nicht, wie er innerhalb der kommenden Wochen an genug Personal kommen soll, damit im September auch die 200 Kinder ohne Betreuungsplatz in den Kindergarten gehen dürfen. Und so wie Scharpf geht es vielen Rathauschefs in Bayern.

Mehrere Buntstifte vor einer Wand mit Kinderfotos - aus der Kia "Kleine Welt" in Ingolstadt.
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Räume vorhanden, aber zu wenig Personal: In Ingolstadt und in vielen anderen bayerischen Städten fehlen Kitaplätze

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