Landtag diskutiert über BR-Recherchen zu Gewalt und Übergriffen in Kitas
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Landtag debattiert über Gewalt und Übergriffe in Kitas

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Nach Kita-Recherchen: Emotionale Debatte im bayerischen Landtag

Die BR-Berichte zu Übergriffen und Gewalt in Kindertagesstätten haben ein breites Echo ausgelöst. Auch in der Politik: Heute befasste sich der Landtag mit den Recherchen. Die FDP stellte einen Dringlichkeitsantrag, der emotional diskutiert wurde.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Im Bayerischen Landtag zeigten sich am Donnerstag Abgeordnete aller Parteien erschüttert über die BR-Recherchen: Kinderschutz sei sehr wichtig, hieß es unisono quer durch die Fraktionen, deshalb sei der Anstieg der Verdachtsfälle bei den Kita-Aufsichten alarmierend.

Der Vizevorsitzende des Sozialausschusses Thomas Huber (CSU) etwa zeigte sich schockiert: "Jeder Fall von körperlicher oder seelischer Gewalt gegen Kinder ist einer zu viel. Wir brauchen hier eine Null-Toleranz-Strategie." Der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Johannes Becher, führt den Anstieg vor allem auf Überlastung und schlechte Arbeitsbedingungen in Bayerns Kitas zurück. Dass es Übergriffe und auch Gewalt in Kindertagesstätten gibt, war offenbar vielen Politikern im Landtag neu.

BR-Recherchen: Mehr Verdachtsfälle, Durcheinander bei Schutzkonzepten

Der BR hatte am Mittwoch über Aufsichtspflichtverletzungen, Übergriffe und Gewalt in Kitas berichtet: Von 61 pädagogischen Fachkräften, mit denen BR-Reporterinnen sprachen, erklärten nur zwei, sie hätten noch nie seelische oder körperliche Gewalt gegen Kinder erlebt. Trotzdem gaben nur wenige Erzieherinnen an, diese Vorfälle auch gemeldet zu haben. BR Recherche führte daraufhin eine Umfrage unter 76 Kita-Aufsichtsbehörden durch, 59 antworteten: Demnach stieg die Zahl der Meldungen vom vergangenen Jahr bis Anfang Dezember 2022 um rund hundert Fälle. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass die Aufsichtsbehörden sehr unterschiedlich mit Meldungen umgehen, manche erfassen sie gar nicht.

Ein weiteres Ergebnis der BR-Umfrage: Auch das im Bundesgesetz seit Juni 2021 vorgeschriebene einrichtungsbezogene Schutzkonzept hat bislang nur ein Teil der Kitas in Bayern vorgelegt. Es soll Kinder unter anderem vor Übergriffen und Gewalt schützen. Die Aufsichtsbehörden handhaben das Schutzkonzept und seine Kontrolle höchst unterschiedlich.

Lebhafte Debatte im Bayerischen Landtag

Die FDP hatte wegen der BR-Recherchen einen Dringlichkeitsantrag mit konkreten Forderungen gestellt: Die Liberalen wünschen sich verbindliche Standards für das Schutzkonzept, und dass dieses möglichst bis Jahresende - spätestens bis 31. März 2023 - abgegeben werden muss. Das Konzept müsse außerdem regelmäßig kontrolliert werden, forderte die sozialpolitische Sprecherin Julika Sandt und gab der Staatsregierung eine Mitschuld: "Sie machen sich damit schuldig, dass Sie diesen hausgemachten Personalmangel haben, dass Sie nichts vorantreiben, dass es katastrophale Zustände in Bayern gibt. Es gibt kein vernünftiges Meldeverfahren." Aufsichtsbehörden, so Sandt, müssten Meldungen zu Übergriffen und Gewalt einheitlich erfassen und nachverfolgen. Der Antrag wurde aber abgelehnt.

Sozialministerin Ulrike Scharf warf der Opposition, insbesondere der FDP, daraufhin vor, Eltern zu verunsichern, die "großartige Arbeit in unseren Kitas" zu entwerten und die Demokratie zu spalten. Dafür erhielt die CSU-Politikerin Applaus von der Regierungsbank und Buhrufe der Opposition. Aber auch die Ministerin forderte im Plenum, Übergriffe und Gewalt in Kitas zu melden: "Es braucht eine Kultur der Achtsamkeit und des Hinschauens. Ich kann an alle nur appellieren, Eltern, Erzieherinnen, Kitaleitung, auch an Träger, diese Kultur jeden Tag zu leben."

Doris Rauscher, die sozialpolitische Sprecherin der Landtags-SPD, wies die Vorwürfe der Ministerin scharf zurück und verwies auf Rückmeldungen von Erzieherinnen und Trägern. Die Sozialdemokratin betonte, in Bayerns Kitas gehe es auch um Alltagsgewalt: "Keine Zeit, um in Ruhe zu wickeln, keine Zeit, um Essen einzugeben, kein achtsamer Umgang mit den Signalen von kleinen Kindern, das bestätigen auch die aus der Praxis."

Opposition kritisiert Kita-Ausbau der Staatsregierung

Im BR-Interview fordert Jan Schiffers (AfD), den Anstieg der Verdachtsfälle zu untersuchen. Für ihn hängt dieser auch mit der Kita-Politik der bayerischen Staatsregierung zusammen: "Ein Problem ist, dass in den letzten Jahren zu viel auf Quantität und nicht auf Qualität geachtet wurde. Der Kita-Ausbau wurde quasi auf Teufel komm raus betrieben. Aber es fehlen ausreichend Fachkräfte, ausreichend Personal." Hier sei die Staatsregierung seit Jahren erfolglos, kritisiert auch der Grünen-Abgeordnete Johannes Becher. Er fordert mehr Geld für die Kitas und zusätzliche Kräfte, um die Lage sofort zu verbessern: "Jetzt Assistenz- und Ergänzungskräfte einsetzen, nicht als Ersatz der Fachkräfte, sondern als Ergänzung. Das wäre der einfachste Schritt."

Seine Kollegin von den Freien Wählern, Susann Enders, erklärte im BR-Interview dagegen, die Staatsregierung setze sich dafür ein, mehr Fachkräfte in die Kitas zu bekommen und appellierte: "Ich kann nur sagen, trauen Sie sich, gehen Sie in dieses wunderbare Berufsfeld, je mehr Menschen dort arbeiten, je weniger Fachkräftemangel haben wir und umso entspannter ist auch die Arbeitsweise."

Nach Berichterstattung viele Rückmeldungen und neue Hinweise

Die Berichterstattung von Mittwoch hat viele User, Zuschauer und Hörer des Bayerischen Rundfunks bewegt. Hunderte Kommentare gingen ein.

Auf den Instagram-Kanälen BR24 und "Eltern ohne Filter", äußerten sich vor allem Erzieherinnen: "Ich habe es selbst als Erzieherin gesehen und miterlebt, wie andere ungerecht und grenzüberschreitend mit Kindern umgehen. Die pädagogische Qualität in Kitas ist noch lange nicht, wo sie hingehört und Gründe dafür gibt es einige!" / "Ich habe mich aber schon in der Ausbildung gefragt, warum manche Menschen die Ausbildung überhaupt machen dürfen." / "Wenn ich als Pädagogin alleine mit zum Teil 20 Kindern in einer Gruppe bin (und das oft wochenlang), dann ist da keine Zeit für individuelle Förderung und Betreuung. Das ist ein einziges Aufbewahren und Luft anhalten, dass nichts passiert."

Auch viele Eltern meldeten sich mit ihren Erfahrungen zu Wort: "Gefrustet und unterbezahlt zu sein, ist das Eine. An kleinen Kinder diesen Frust abzulassen und zu traumatisieren, ist jedoch eine ganz andere Hausnummer. Hier sprechen wir außerdem von Straftaten und das sollte keinesfalls relativiert werden." / "Jetzt weiß ich, wie ich das nennen kann, und warum ich meinen Mittleren aus dem Kindergarten genommen habe. Das war da ganz normal und ich wusste nur, er muss da weg." / "Selbst schon erlebt: Erzieherin hat die Kinder mit ihrem Bein oder Arm über den Oberkörpern fixiert, damit sie 'besser zur Ruhe kommen' beim vorgeschriebenen Mittagsschlaf. Wir haben die Einrichtung gewechselt und jetzt einen wirklich schönen Ort für unseren Sohn, mit bedürfnisorientierten, reflektierten Fachkräften."

Ob über die sozialen Medien per Anruf oder Mail, es gingen viele weitere Hinweise bei BR Recherche ein, denen die Reporterinnen des Investigativteams des Bayerischen Rundfunks nachgehen werden.

Wenn Sie Missstände melden wollen, können Sie sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: brrecherche@br.de

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