Ein Rehbock verbeißt einen jungen Laubbaum (Archivbild)
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Ein Rehbock verbeißt einen jungen Laubbaum (Archivbild)

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Das große Knabbern: Wie Wildschäden in Wäldern untersucht werden

In Bayern nehmen Förster zurzeit ausgewählte Punkte in den Wäldern unter die Lupe. Vor allem der Zustand kleiner Bäume und wie stark diese durch Wild verbissen sind, wird begutachtet. Das Ergebnis hat vor allem für Jäger weitreichende Folgen.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

"Da ist der Punkt", sagt Förster Willi Weber und zeigt auf die Karte in seinem Tablet. In der entsprechenden Gegend im Gemeindewald bei Rögling im Landkreis Donau-Ries wird er sich heute ganz genau anschauen, welche Baumarten dort wachsen. Auch, wie groß die jungen Bäumchen sind und vor allem, in welchem Zustand sie sich befinden - also, ob sie von Reh oder Hase angefressen wurden.

Bestandsaufnahme an über 22.000 Stellen

Förster in ganz Bayern sind in diesen Wochen damit beschäftigt, an über 22.000 systematisch festgelegten Stellen in Bayerns Wäldern solch eine Bestandsaufnahme durchzuführen. Voraussetzung ist, dass es dort eine Verjüngungsfläche gibt, also dass junge Bäume dort wachsen, und dass diese nicht durch Zäune oder andere Maßnahmen geschützt sind.

Pro Hegegemeinschaft werden 30 bis 40 Stellen begutachtet. Bei einer Hegegemeinschaft handelt es sich um einen Zusammenschluss mehrerer Jagdreviere. Das letzte Vegetationsgutachten aus dem Jahr 2021 zeigte, dass der Verbiss in etwa der Hälfte der 750 bayerischen Hegegemeinschaften zu hoch war.

Wie die Begutachtung abläuft

Inzwischen ist Revierförster Weber an dem entsprechenden Punkt im Wald angekommen und rammt einen rot-weißen Stab in den Boden. Von dort aus schreitet er jetzt in Meterschritten auf einer Geraden vorwärts. Alle 15 Meter setzt er einen weiteren Stab, bei Meter 60 befindet sich der Endpunkt, dort verläuft ein Weg. Festgeschrieben ist, dass die Gerade, auf der untersucht wird, zwischen 50 und 100 Meter lang sein muss.

An jedem Stab wird er jetzt gemeinsam mit Martin Braun, dem Abteilungsleiter Forsten beim Nördlinger Amt für Landwirtschaft und Forsten, 15 Bäumchen genau anschauen: Um welche Baumart handelt es sich und wie hoch ist die Pflanze? Ist sie angeknabbert? Und wenn ja, wo? Gibt es Fegeschäden? Hat also ein Rehbock sein Geweih an der Rinde gewetzt und diese dadurch beschädigt?

Auf Gutachten basieren Empfehlungen zum Abschuss

Seit 1986 wird diese "Waldinventur" alle drei Jahre in ganz Bayern durchgeführt. Sie findet damit heuer zum 14. Mal statt. Die Daten können Beteiligte wie Grundstücksbesitzer oder Jäger dann noch einsehen, bevor die Bayerische Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft in Freising [externer Link] daraus das forstliche Gutachten zur Situation der Waldverjüngung erstellt. Besser bekannt ist das als das "Vegetationsgutachten". Darin wird der Zustand der jungen, von selbst aufgegangenen und ungeschützten Bäume im Hinblick auf Verbiss und Fegeschäden beschrieben.

Darauf basierend werden auch Empfehlungen zum künftigen Abschuss gegeben, also ob die Jäger mehr oder weniger Rehwild schießen müssen. Die sind darin nämlich keineswegs frei: Aufgrund der Empfehlungen im Gutachten setzen die Unteren Jagdbehörden an den Landratsämtern fest, wie viele Wildtiere welcher Art die Jäger erlegen müssen. Schießen sie ein Reh oder ein Wildschwein, tragen sie das in ihre sogenannte Streckenliste ein. Die Geweihe der erlegten Rehböcke zeigen sie außerdem bei der jährlichen Hegeschau vor.

Röglinger Jäger: "Man kriegt das hin"

Bei der Bestandsaufnahme der Förster ist deshalb auch ein Jäger dabei. Richard Kohl vertritt als zweiter Bürgermeister den Grundstücksbesitzer, denn der Wald gehört der Gemeinde. Er hat einen Begehungsschein für dieses Revier und ist hier regelmäßig zur Jagd unterwegs. Er jage mit zwei anderen Jägern, die Abschusszahlen hätten sie bisher leicht erfüllen können.

"Man kriegt das hin", sagt Kohl, "das ist für uns kein Problem. Wir haben auch genügend Rehe, es ist nicht so, dass man alles zusammenschießt." Oft stünden sogar drei oder vier zusammen. "Wenn es gleich zehn oder zwölf wären, hätten wir sicher auch einen größeren Verbiss", erklärt der Jäger. Bei der letzten Untersuchung war die Verbiss-Situation in seinem Revier als tragbar eingestuft worden, in der gesamten Hegegemeinschaft Monheim war der Verbiss allerdings zu hoch.

Wie hoch der Verbiss inzwischen ist, schauen sich die beiden Förster bei der Bestandsaufnahme an. Rund um die rot-weißen Markierungsstäbe haben sie inzwischen die 15 nächstgelegenen Bäumchen je nach Größe mit roten und gelben Wäscheklammern markiert. Außerdem hat Weber ein gelbes Band an eine Pflanze gebunden: "Das bleibt hängen und verwittert erst mit der Zeit. Wir markieren die Stelle so, damit man sie wiederfinden kann, falls an den Ergebnissen etwas angezweifelt wird", sagt er.

Kritik am Vegetationsgutachten

Da die Untersuchungen sowie das resultierende Gutachten nicht unumstritten sind und weitreichende Folgen vor allem für die Jäger haben können, muss alles nachvollziehbar sein. In der Vergangenheit hatte es unter anderem von Seiten der Jagdverbände immer wieder Kritik an dem Verfahren gegeben. So kritisiert der Deutsche Jagdverband (DJV), dass auf Grundlage der Vegetationsgutachten die Menge von Abschüssen festgelegt wird. Wie stark Verbiss in einem Gebiet verbreitet sei, sage nichts über die Höhe des Bestands der Wildtiere aus. "Vermehrte Wildschäden können beispielsweise dort entstehen, wo sich Wildtiere durch umliegende Störungen wie Wanderwege oder Straßen in Waldbereichen konzentrieren", heißt es etwa auf der Website des DJV (externer Link).

Warum Verbiss für Bäume gefährlich sein kann

Derweil tippt Weber auf seinem Tablet, was ihm Förster Braun diktiert: "Fichte, 70 Zentimeter, unverbissen", sagt der und weiter: "Ahorn, 75 Zentimeter, Verbiss im oberen Drittel." Dann kommt das nächste Bäumchen dran: "Edellaubholz, 47 Zentimeter, Leittriebverbiss". Das bedeutet, dass die Spitze des Bäumchens angefressen ist, was zur Folge hat, dass die Pflanze langsamer wächst. Das heißt wiederum, dass sie länger Gefahr läuft, erneut angeknabbert zu werden. Je schneller ein Bäumchen höher als 1,30 Meter sei, umso schneller sei es aus dem "Gefahrenbereich" für den Verbiss, erklärt Braun.

Das habe dann auch Auswirkungen auf die Pflege: Bei sehr kleinen Bäumchen müsse man öfter ausmähen, das sei mit Kosten und viel Arbeit verbunden. Unverbissene Bäumchen mit nur einem Leittrieb wachsen dagegen schneller nach oben. Aufgenommen wird übrigens nur der Verbiss durch Schalenwild. Dabei handelt es sich um Paarhufer, wie zum Beispiele Rehe, Rothirsche und Wildschweine.

Ihren Verbiss erkennt man daran, dass die angeknabberten Stellen oft ausgefranst wirken. Das liegt daran, dass etwa Rehe, ähnlich wie Kühe, oben keine Zähne haben. Bei einem Hasen wäre die Stelle dagegen scharfkantiger. Gerade in Zeiten des Klimawandels sei es wichtig, dass unterschiedliche Baumarten eine Chance haben, groß zu werden. Noch wisse man ja nicht, welche Arten auf Dauer am besten mit dem Klimawandel zurechtkämen, so die Förster.

Fegeschäden sind seltener

Am nächsten Bäumchen, das sie begutachten, ist die Rinde beschädigt: Hier hat ein Rehbock den Bast von seinem Geweih abgewetzt. Der Bast ist eine behaarte Hautschicht, unter der sich ein neues Geweih bildet. Für den Baum sind Verletzungen dieser Art problematisch: Das Holz liegt offen, Pilze können sich ansiedeln und langfristige Fäule verursachen. Ist die Rinde rundum ab, kann der Baum auch eingehen, da die Wasserzufuhr von der Wurzel nach oben unterbrochen ist. Solche Fegeschäden werden die Förster an den vier Untersuchungspunkten nur selten finden, allerdings sind zahlreiche Bäumen angeknabbert.

Am Ende der Aufnahme nach einer knappen Stunde zieht Förster Weber Bilanz: "Mein erster Eindruck ist: Es gibt viele junge Bäumchen, es kommt Verjüngung hoch, das ist gut. Gerade Buchen und Bergahorn sind zwar recht verbissen, aber, sie kommen hoch." Genauer bewerten könne er das heute noch nicht, es sei nur ein untersuchter Punkt von insgesamt 30 in der gesamten Hegegemeinschaft. Die Ergebnisse werden dann gemeinsam in das Forstliche Gutachten eingehen.

Grundsatz "Wald vor Wild"

Die gesetzliche Grundlage für die Erstellung der Vegetationsgutachten bildet das Bayerische Waldgesetz. Darin ist auch der Grundsatz "Wald vor Wild" festgeschrieben. Hierzu will Förster Braun allerdings festhalten: Der Grundsatz gelte im Abwägungsfall. In der Regel aber, sagt der Förster, bedinge sich beides, der Wald brauche das Wild und andersherum. "Aber ohne einen klimastabilen, gemischten und zukunftsfähigen Wald wird auch das Wild Schwierigkeiten haben". Als Waldbesitzer sollte man die Möglichkeit haben, den Wald mit für den Standort geeigneten Baumarten natürlich verjüngen zu können, ohne dass man ständig Zäune bauen müsse. Denn auch durch Zäune verliere das Wild Lebensraum. Deshalb sollte man beides in Einklang bringen.

Im Video: Kritischer Blick auf den Wildverbiss

Förster schauen im Wald bei Rögling, ob die kleinen Bäume vom Rehwild verbissen sind.
Bildrechte: BR/Judith Zacher
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Förster schauen im Wald bei Rögling, ob die kleinen Bäume vom Rehwild verbissen sind.

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