Schwierigkeiten beim Sprechfluss sind besonders in Kindheit und Jugend mit erheblichen Nachteilen verbunden. Im Bild: In einer Sprechblase steht das gestotterte Wort sprechen.
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Ausreden lassen und sich Zeit nehmen, lautet eine Bitte von Stotternden an ihr Umfeld.

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Zum Welttag des Stotterns: Der Kampf mit der Sprache

Etwa fünf Prozent aller Kinder stottern - aber nur bei einem Prozent setzt es sich bis ins Erwachsenenalter fort. Vieles über das Phänomen ist unklar. Was man über die Auslöser weiß, wann eine Heilung möglich ist und wie das Umfeld reagieren sollte.

Das ungewollte Verharren auf einem Buchstaben, das Wiederholen von Wörtern und das Dehnen von Vokalen gehört für rund 800.000 Menschen in Deutschland zu ihrem Alltag. Doch auch wenn das Stottern bei Betroffenen meist nur bei spontaner Konversation und in Stresssituationen auftritt, sind für sie die Schwierigkeiten bei der Artikulation oft mit erheblichen Nachteilen verbunden.

Mit Mobbing und Ausgrenzung haben besonders stotternde Kinder und Jugendliche zu kämpfen. Das führt schon mal dazu, dass eingeschlagene Bildungswege widerwillig abgebrochen werden, nur, um sich nicht mehr dem Spott der Mitschüler aussetzen zu müssen. Gerade bei Kindern ist aber eine Heilung möglich. Und auch bei Erwachsenen können Therapien helfen, das Stottern zumindest einzudämmen.

Was das Stottern auslösen kann - und was es verhindert

Besonders bei Vorstellungsgesprächen, vor größeren Gruppen und in Auseinandersetzungen fällt Stotternden das Reden schwer. In der Kommunikation mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Partnern hingegen ist der Redefluss oft weniger beeinflusst.

"Das Gefühl der Sicherheit macht viel aus", sagt Harald Euler, Evolutionspsychologe im Ruhestand und Experte für Phoniatrie und Pädaudiologie. Es sei ein wesentlicher Grund dafür, warum die Sprachstörung bei Betroffenen nicht immer auftritt. Das bedeutet: Je entspannter die Situation, desto weniger haben Stotternde Probleme.

Kein Stottern beim Reden mit Tieren und Babys

Entspannend wirken auf Stotternde neben vertrauten Personen auch Hunde und Katzen. Im Gespräch mit den Vierbeinern haben sie oft keine Schwierigkeiten, reden - anders als sonst - flüssig und fehlerfrei. "[Tiere] haben - anders als die Menschen - keine Erwartungen und zeigen keine Reaktionen", erklärt Sebastian Koch, Betroffener und Journalist, der mit seinem eigenen Podcast auf die Situation Stotternder aufmerksam machen will.

Auch bei der Konversation mit Babys und Kleinkindern ist die Sprechstörung Stotternder weniger massiv oder gar nicht vorhanden. Ein Grund dafür ist wohl: Babys und kleine Kinder können - wie Tiere - nicht nachäffen, sich nicht lustig machen oder einfach Redebeiträge von Stotternden ignorieren. Auch das Singen funktioniert bei Stotternden einwandfrei. Hierfür ist die Ursache allerdings eindeutig auszumachen: Für das Singen werden andere Gehirnareale gebraucht als beim Sprechen.

Bekannte Ursachen des Stotterns

Mitverantwortlich für das Stottern ist eine Schwäche der Faserbahnen in der linken Gehirnhälfte, die die sprechrelevanten Zellen miteinander verbinden. "Die Verdrahtung ist nicht so gut", erläutert Martin Sommer, der selbst seit seiner Kindheit stottert und als Neurologe an der Universitätsklinik Göttingen tätig ist.

So misslinge die Vorbereitung auf die anstehende Sprechaufgabe – der Mensch stottere, führt der Neurologe auf der Internetseite der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e. V. weiter aus. Schuld an dieser Funktionsstörung im Gehirn sind zu 80 Prozent die Erbanlagen, also die Gene.

Männer und Jungen stottern häufiger

Was neben den Genen weitere Ursachen für das Stottern sind, ist für Wissenschaftler noch nicht klar. Es steht jedoch fest, dass das Stottern nicht auf frühkindliche Erfahrungen wie Spracherziehung, familiäre Probleme oder Scheidungen der Eltern zurückzuführen ist. Das haben Zwillingsstudien ergeben. "Auch Traumata spielen da keine Rolle", sagt Evolutionspsychologe Euler.

Ebenso unklar ist, warum mehr Jungen und Männer als Mädchen und Frauen stottern: Im Kindesalter kommen auf ein stotterndes Mädchen zwei stotternde Jungs, nach der Pubertät beträgt das Verhältnis sogar vier zu eins. "Das ist unsere Gretchenfrage", sagt Sommer. Auch über die Ursachen, warum bei den meisten Kindern das Stottern wieder verschwindet, haben die Wissenschaftler bisher noch keine ausreichenden Erkenntnisse.

Eltern sollten bei ersten Anzeichen schnell reagieren

Die Zahl stotternder Kinder könnte jedoch laut Experte Sommer weiter reduziert werden. Er gibt Eltern stotternder Kinder folgenden Rat: "Spätestens sechs bis zwölf Monate nach Auftreten der Redeflussstörung sollte eine Behandlung erfolgen." Im Kindesalter kann das Stottern mittels Therapie oder durch eine sogenannte Spontanheilung, also von selbst, wieder verschwinden.

Bei Erwachsenen ist das hingegen nicht möglich. Hier können im Wesentlichen nur zwei therapeutische Wege helfen, die Störung einzudämmen. Eine der Therapien zielt auf einen anderen Sprechmodus, dem sogenannten "Fluency Shaping", ab. Bei dieser Behandlung wird dem Betroffenen beigebracht, die Anfangssilben bewusst langsam und sanft zu sprechen. Der Stotternde muss die neue Sprechweise dann im Alltag bis zu einem Jahr lang trainieren. Danach wird das Ergebnis überprüft.

Die zweite Therapie betrifft nicht den Redefluss selbst, sondern setzt in dem Augenblick an, in dem der Stotternde hängen bleibt. Dabei werden Praktiken gelehrt, wie man aus der Blockade rasch wieder herauskommt, etwa durch das Wiederholen des Wortes.

Neuere Forschungsergebnisse der Universität Göttingen belegen sogar, dass sprechmotorisches Training über ein Jahr hinweg die Hirnstruktur stotternder Erwachsener in Bereichen, die für das flüssige Sprechen relevant sind, verändern kann.

Tipps für das persönliche Umfeld Betroffener

"Wenn man nicht hinter dem Ofen hervorkommt und die Klappe aufreißt, ändert sich nichts", sagt der betroffene Experte Sommer zum Umgang mit dem Stottern. Viel sprechen helfe viel.

Es gelte, dass Sprechen zu trainieren und Herausforderungen zu suchen, anstatt "als Schweiger" durchs Leben zu gehen, rät der Neurologe Stotternden. Von seinem Umfeld fordert er: "Bitte nicht Sätze weiterführen, Stotternde ausreden lassen - und sich einfach Zeit für sie nehmen."

Der Welttag des Stotterns

Seit 1998 ist am 22. Oktober eines jeden Jahres der "Welttag des Stotterns" (International Stuttering Awareness Day). Auch in Deutschland wird der Welttag genutzt, um mit Aktionen und Veranstaltungen Aufmerksamkeit für die Lebenssituation von Stotternden zu schaffen.

Das vom Stotterer-Weltverband ISA (International Stuttering Association) ausgerufene Welttagsmotto 2020 lautet: "Journey of Words – Resilience and Bouncing Back (zu Deutsch: Reise der Worte - Belastbarkeit und Zurückweisung)".

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