Ein Mensch misst seinen Bauchumfang mit einem Maßband
Bildrechte: BR/Julia Müller

Der Bauchumfang spielt eine wichtige Rolle

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Schlank gespritzt: Hype um ein Diabetes-Medikament

Abnehmen per Spritze, angeblich ganz einfach: In den USA greifen immer mehr Menschen zu einer drastischen Maßnahme, um Fett abzubauen. Aber das hat enorme Auswirkungen auf diejenigen, für die der Wirkstoff eigentlich vorgesehen ist: Typ-2-Diabetiker.

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Ein Lifestyle-Trend geht um die Welt. Eine Spritze, um lästige Pfunde loszuwerden - was ist dran an dem Hype um die "Abnehmspritze"? Wem bereitet er sogar Probleme? Und was sagen Ärzte und Apotheker dazu?

Präparat dient der Diabetes-Behandlung

Niklas Wandpflug wiegt 150 Kilo und ist Diabetes-Typ-2-Patient. Regelmäßig geht der 49-Jährige schwimmen und Rad fahren, achtet auf strikte Ernährung, doch das reicht nicht aus. Bei allen bisherigen Medikamenten musste er laufend die Dosis erhöhen.

Vor einem Jahr hat er auf ein neues Medikament umgestellt: Ozempic. "Ich bin froh, dass ich es habe, weil die Werte jetzt wieder gut sind", freut sich Wandpflug. Davor habe ihm einfach nichts geholfen. Insgesamt habe er etwa zehn Kilo abgenommen, seit er das Präparat nehme.

Ozempic wurde 2018 in der EU zugelassen zur Behandlung von Diabetes. Einmal wöchentlich muss sich Niklas Wandpflug eine Spritze in den Bauch verabreichen. Der enthaltene Wirkstoff Semaglutid ahmt ein körpereigenes Hormon nach und reguliert so die Zuckerwerte.

Medikament sorgt auch für weniger Appetit

Prof. Robert Ritzel, Chefarzt der Abteilung Diabetologie der Städtischen Klinik München-Bogenhausen, forschte schon in den Neunzigerjahren für seine Doktorarbeit zum Thema Hormon-Wirkstoffe. Er hält Semaglutid für eine Revolution. "Die wichtigen Wirkungen sind die Blutzuckerregulation – das gelingt durch die Beeinflussung von Insulin und Glucagon im Körper – also die Blutzuckersenkung. Und natürlich der wichtige Effekt, dass über das Gehirn die Nahrungsaufnahme reduziert wird: Schnellere Sättigung und weniger Appetit und dadurch gelingt der wichtige Gewichtsverlust", erläutert Ritzel.

Hype um "Abnehmspritze" in sozialen Medien

Die Möglichkeit des Abnehmens per Spritze löste einen Hype in den sozialen Medien aus. Das Stichwort Ozempic wurde auf der Videoplattform Tiktok bereits 1,2 Milliarden Mal aufgerufen. Losgetreten wurde der Hype in den USA. Milliardär und Tesla-Chef Elon Musk wurde auf Twitter vergangenen November gefragt: "Hey Elon, du siehst fantastisch aus, was ist dein Geheimnis?" Er antwortete: "Fasten und Ozempic".

Das Präparat wird zur Mode. So spielte etwa bei der Oscarverleihung im März Starmoderator Jimmy Kimmel in seiner Eröffnungsrede darauf an, dass bei den Hollywoodstars die Abnehmspritze kursiere. "Wenn ich mich umsehe, schaut jeder hier so großartig aus, da frage ich mich, ist Ozempic auch etwas für mich?", so Kimmel.

Auswirkungen auf Präparat-Verfügbarkeit

Die Kehrseite der Medaille: Diabetes-Patienten wie Niklas Wandpflug, die Ozempic wirklich brauchen, bekommen es kaum noch. Mit seiner Ärztin bespricht er das weitere Vorgehen, denn die Lage spitzt sich zu. "Ich hatte das erste Mal die Situation, dass eine Pharmavertreterin empfohlen hat, ihr Medikament nicht zu verordnen", berichtet die Germeringer Internistin und Diabetologin Manuela Nader. "Das habe ich tatsächlich noch nie erlebt. Und zwar mit der Begründung, dass die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet ist."

Doch was passiert, wenn Wandpflug sein Medikament nicht mehr nehmen kann? Laut Nader drohen "schlechtere Werte bei seinem inzwischen sehr gut eingestellten Diabetes." Auch das Risiko, dass er auf ein anderes Medikament umgestellt werden muss, oder sogar auf Insulin umgestellt werden muss, was immer ungünstig ist, weil es zu Gewichtszunahme führt. "Das ärgert mich schon, dass es jetzt Leute nehmen, die es eigentlich nicht brauchen", äußert Wandpflug. "Das heißt, sie nehmen es, damit sie jetzt im Sommer wieder in den Bikini reinpassen."

Das Problem: Ärzte verschreiben das Medikament zunehmend auf Privatrezept zum Abnehmen, statt als Diabetes-Präparat. "Das ist ein Off-Label-Use", erläutert Nader. "Das heißt, es ist außerhalb der zugelassenen Indikation." Der Patient müsse es auch selbst zahlen. Das sei zwar legal, der Arzt dürfe es verordnen, "aber wenn es dann dazu führt, dass die Patienten, die es eigentlich bräuchten, es für ihre Erkrankung nicht mehr bekommen, finde ich, dann sollte man das nicht wirklich machen."

Apotheken fehlt Planungssicherheit

Die BR-Redaktion mehr/wert fragt in Apotheken nach. Die Resonanz: Es kämen viele mit Privatrezept. Ob allerdings für Diabetes oder zum Abnehmen, lasse sich auf einem Rezept nicht erkennen. Fakt aber sei: Der Markt sei leergefegt, in allen Dosierungsstärken. Bei den Großhändlern sei überhaupt nichts mehr lieferbar. "Ich bekomme mit ein bisschen Glück in einer Woche mal eine Packung, kann mir da aber auch die Stärke nicht aussuchen", berichtet Peter Sandmann vom Apothekerverband München. "Das heißt, wir können nichts planen. Und wir können auch den Patienten nichts versprechen."

Inzwischen hat der Hersteller von Ozempic, Novo Nordisk, öffentlich vor wiederholten Lieferengpässen in Deutschland gewarnt, die "voraussichtlich im Jahr 2023 andauern werden. (…) Ozempic ist nur zur Behandlung des Diabetes Typ 2 zugelassen. Jedes andere Anwendungsgebiet, inklusive Gewichtsregulierung, stellt eine Off-label-Anwendung dar und kann aktuell die Verfügbarkeit für Menschen mit Diabetes gefährden (…) Dies kann klinische Folgen haben."

International gravierende Preisunterschiede

Wie kann es sein, dass in Deutschland das Medikament kaum mehr verfügbar ist, während es in den USA für Schlankheitsspritzen genutzt wird? "Bei patentgeschützten Arzneimitteln ist es so, dass der Hersteller ein Jahr lang einen beliebigen Preis festsetzen kann, sich nach diesem Jahr aber mit den Krankenkassen auf einen gewissen Grundpreis einigen muss", erklärt Sandmann, Inzwischen sei es aber so, dass dieser Preis in Deutschland schon deutlich unter dem in vielen anderen Ländern liege.

In Deutschland kostet eine Monatsration Ozempic rund 73 Euro. In den USA zum Beispiel kostet auf einer der größten Online-Medikamentenseiten eine Monatsdosis Ozempic, gleich welcher Dosierungsstärke, fast 1.000 Dollar. Also mehr als das Zwölffache im Vergleich zu Deutschland.

"Es ist natürlich bei den Preisunterschieden schon so, dass davon auszugehen ist, dass die Firma natürlich auch in die Länder liefert, wo sie den höheren Ertrag erzielen kann", sagt Sandmann. "Wir hatten im Winter die Situation, dass einige Arzneimittel hier nicht verfügbar waren, aber doch in den hochpreisigeren anderen europäischen Ländern durchaus verfügbar waren."

Ozempic-Hersteller nimmt Stellung

Bedient der Ozempic-Hersteller Novo Nordisk vorrangig hochpreisige Märkte, weil dort höhere Gewinne erzielt werden können? Schriftlich heißt es auf Anfrage der BR-Redaktion mehr/wert: "Die Entscheidungen, wie Medikamente auf einzelne Länder weltweit verteilt werden, sind von verschiedenen Variablen abhängig. Grundsätzlich erhalten die Länder ihre Produkte gemäß einer Nachfrageprognose. (…) Die Preispolitik in Deutschland ist im internationalen Vergleich durchaus herausfordernd. (...) Aus unserer Sicht ist hier eine Anpassung der Rahmenbedingungen für die Preisgestaltung dringend erforderlich."

Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte versucht inzwischen dem Lieferengpass entgegenzusteuern und gab im April eine Empfehlung heraus: Die Verordnung des Medikaments Ozempic soll auf Privat-Rezepten ab sofort nur noch unter Angabe einer zugelassenen Indikation erfolgen. Sprich: Nur für Diabetiker. Bei Zuwiderhandlung gibt es aber bisher keinerlei Konsequenzen.

Mediziner warnt vor Ozempic als Lifestyle-Medikament

"Als Lifestyle-Medikament, um schnell mal ein paar Kilo Gewicht zu verlieren, ist es nicht geeignet", betont Professor Ritzel. "Es muss ärztlich rezeptiert werden, und da ergeben sich dann natürlich auch kurzfristig die Probleme, dass man unterschiedliche Organsysteme dem Medikament aussetzt, das ist in Studien ja gar nicht geprüft. Wir haben also keine Sicherheitsdaten dazu."

Diabetespatient Niklas Wandpflug hofft, dass er das Medikament weiter bekommt. Denn er soll es sein Leben lang nehmen, um seine Erkrankung unter Kontrolle zu behalten.

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