Lokführer, Ärztinnen und Flugbegleiter - So viele Streiks in einer Woche gab es selten. Aber werden es auch wirklich mehr?
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Lokführer, Ärztinnen und Flugbegleiter - So viele Streiks in einer Woche gab es selten. Aber werden es auch wirklich mehr?

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Öfter, länger, schlimmer: Ist Deutschland jetzt ein Streikland?

Dass Lokführer und Flugbegleiter gleichzeitig die Arbeit ruhen lassen, ist eine Art Höhepunkt in der aktuellen Streikwelle. Experten halten das aber eher für einen Zufall. Noch – denn die Streiklust in Deutschland könnte künftig weiter wachsen.

Über dieses Thema berichtet: Wirtschaft am .

Ja, es wird wieder viel gestreikt, aber das war im vergangenen Jahr auch schon der Fall. So sieht man es zumindest beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Dass es im Gegensatz zu früher mehr Arbeitskämpfe gebe, lasse sich statistisch jedenfalls bislang nicht belegen, sagt Hagen Lesch, Leiter des Fachgebiets Tarifpolitik beim IW.

Allerdings, räumt er ein, seien die Konflikte intensiver geworden: In den derzeit laufenden Tarifverhandlungen werde früher gestreikt und schon die Warnstreiks dauerten nicht mehr nur Stunden, sondern Tage. Die Streikbereitschaft sei auch allgemein höher – vor allem wegen der Inflation und des Fachkräftemangels. So könnten Gewerkschaften die Beschäftigten leichter mobilisieren, da sie weniger Angst um ihren Arbeitsplatz hätten.

Werden die Streiks in Deutschland immer aggressiver? Wo wird europaweit am meisten gestreikt? Ein Überblick.

Grafik: Wie hat sich die Intensität der Tarifverhandlungen in Deutschland entwickelt?

Nach zähen Jahren haben viele Hoffnung auf "Nachschlag"

Dass es so scheint, als gebe es mehr Streiks als sonst, liege vor allem daran, dass sehr viele Menschen davon betroffen sind. Denn häufig geht es um den Verkehrssektor, also Bahnen, Busse, die Lufthansa oder das Flughafenpersonal.

Dem IW zufolge besteht eine gewisse Erwartungshaltung, dass die realen Kaufkraftverluste der vergangenen Jahre jetzt mit einem Nachschlag ausgeglichen werden. "Das Problem dabei ist", so Hagen Lesch, "dass wir uns in einer Rezession befinden und die krisenbedingten Wohlstandsverluste noch nicht aufgeholt haben." Die Arbeitnehmer müssten akzeptieren, dass sie "ihren Teil des Wohlstandsverlustes mittragen müssen", so Lesch weiter.

Hans-Böckler-Stiftung: Deutschland im internationalen Vergleich eher abgehängt

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung meint dagegen, nicht nur die Härte der Auseinandersetzung habe zugenommen, sondern auch die Anzahl der Streiks. Es handele sich aber nach wie vor um ein "bewährtes Mittel zu Konfliktlösung". Im internationalen Vergleich liege Deutschland immer noch im unteren Mittelfeld. Nur etwa jeder sechste Arbeitnehmer habe hierzulande schon einmal an einem Streik teilgenommen.

Europakarte: Hier wird am meisten gestreikt

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wagt die Prognose, dass die Menschen sich in Zukunft auf noch mehr Streiks einstellen müssen. Auch wenn es dazu noch keine konkreten Zahlen gibt, sieht DIW-Chef Marcel Fratzscher dafür zwei wesentliche Gründe.

Der wichtigste Punkt: Gewerkschaften wie Verdi, die auch für den Öffentlichen Dienst zuständig ist, gewinnen in letzter Zeit immer mehr Mitglieder. Allein bei der Dienstleistungs-Gewerkschaft zählte man im vergangenen Jahr fast 200.000 Neuanmeldungen. Zuvor waren die Mitgliederzahlen über viele Jahre hinweg rückläufig gewesen.

Vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt

Verdi führt diesen ungewohnten Erfolg auf eine offensivere Tarifpolitik mit mehr Warnstreiks und anderen Aktionen zurück. Solche Maßnahmen, an denen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben aktiv beteiligen können, sind offenbar die beste Werbung für eine Gewerkschaft.

Der zweite entscheidende Punkt ist Fratzscher zufolge im demografischen Wandel zu sehen. Denn weil Arbeitskräfte fehlen, wandelt sich auch der Arbeitsmarkt: "Wir verändern uns von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt", erklärt er. Früher mussten viele Menschen angesichts der hohen Arbeitslosigkeit froh sein, einen Job zu finden. Inzwischen scheint es für viele gleich mehrere Arbeitsmöglichkeiten zur freien Auswahl zu geben. Das stärkt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften.

Grafik: So sieht die Entwicklung in verschiedenen europäischen Ländern aus

Mehr Auswahl - höhere Forderungen

Beispiele wären die Beschäftigten, die während der Corona-Krise im Luftverkehr von Lufthansa und Flughafenbetreibern wie Fraport abgewandert sind. Oder die vielen Beschäftigten in der Gastronomie, welche die Branche verlassen haben. Sie haben nicht nur andere Jobs gefunden, sondern auch die Machtposition derer gestärkt, die in diesen kriselnden Branchen geblieben sind.

Noch komplizierter ist die Situation bei den Lokführern. Der Bahn AG zufolge ist es fast unmöglich, in mehreren Jahren wesentlich mehr von ihnen einzustellen. Gerade für Schichtarbeit fehlen auch in der Industrie schon viele gut bezahlte Mitarbeiter. Spätestens im Dreischichtbetrieb mit Nachtarbeit sehen viele ihre Lebensqualität zu sehr eingeschränkt, um sich für solche Tätigkeiten überhaupt zu bewerben.

In den nächsten Jahren fehlen nochmal fünf Millionen Beschäftigte

Ein weiterer Punkt, warum derzeit besonders viel und intensiv gestreikt wird, sind die Wohlstandsverluste durch die hohe Inflation der letzten Jahre, mit der die Einkommen nicht mithalten konnten. Über die letzten 18 Monate hätten viele Menschen massive Einbußen ihrer Kaufkraft der Löhne erfahren müssen, sagte Fratzscher dem MDR: "Das heißt, dass viele Beschäftigte und deren Gewerkschaften diesen Verlust wieder ausgleichen wollen." Fazit für den DIW-Chef: Die Verhandlungsmacht der Beschäftigten steige, das führe auch zu mehr Arbeitskämpfen, wie im Augenblick zu sehen ist.

Berechnungen des DIW zufolge wird Deutschland in den nächsten Jahren netto nochmal fünf Millionen Beschäftigte der Babyboomer-Generation auf dem Arbeitsmarkt verlieren, weil weniger junge Menschen nachkämen. Für die Unternehmen steige damit der Druck, im globalen Wettbewerb mit weniger Mitarbeitern zu bestehen.

Die Krux daran: Von den verbleibenden Beschäftigten müsse mehr verlangt werden, beispielsweise in puncto Fortbildung oder Flexibilität. Mit solchen Anforderungen würden aber umgekehrt auch die Ansprüche steigen und damit auch das Potenzial für einen Arbeitskampf, sofern Ansprüche wie auf eine bessere Bezahlung nicht erfüllt werden.

Leerer Bahnhof
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