Die Journalistin ist mit grüner Farbe übergossen
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Elena Milaschina in Grosny

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"Wo ist das normal?": Attentat in Tschetschenien empört Russen

Die Journalistin Elena Milaschina und der Anwalt Alexander Nemzow wurden in Grosny krankenhausreif geschlagen, ihre Ausrüstung gestohlen: In Russland ist die Empörung groß, Machthaber und Putin-Kumpel Ramsan Kadyrow gerät unter Druck.

Er gehört zu den radikalsten und autoritärsten Figuren im russischen Politikbetrieb: Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow ist mehr für seine brutale Innenpolitik und martialischen Blogs bekannt als für militärische Erfolge, doch an seiner Loyalität für Putin lässt er keinen Zweifel. Kadyrows Leute sollten sogar den Aufstand von Söldnerführer Prigoschin niederschlagen, woran Experten allerdings erhebliche Zweifel hatten. Die tschetschenische Sondertruppe ist mehr dafür bekannt, sich schamlos zu bereichern und arglose Bürger zu schikanieren als sich an der Front zu bewähren. Jetzt sieht sich der "fundamentalistische" Extrem-Nationalist Kadyrow einer Wut-Welle ausgesetzt, die den Kreml angesichts eines weit verbreiteten Unbehagens weiter destabilisieren könnte.

"Verschwindet und schreibt kein Wort"

Jetzt kam es zum "ultimativen Horror", wie es die russische Menschenrechts-Aktivistin Eva Merkaschewa ausdrückte: Die russischen Bürgerrechtler Elena Milaschina und Alexander Nemzow waren nach Grosny gereist, um an der Urteilsverkündung im neuesten Prozess gegen Sarema Musajewa teilzunehmen, der Mutter des tschetschenischen Menschenrechtsanwalts Abubakar Jangulbajew. Kadyrow, der sich gern mit Putin zum vertraulichen Meinungsaustausch trifft, verfolgt die ganze Familie seit längerer Zeit mit wüsten Beschimpfungen, forderte ihre "Enthauptung", soll sogar persönlich Mitglieder gefoltert haben und wetterte, sie würden die "Gefühle der Gläubigen" verletzen und "Terroristen" unterstützen. Die öffentliche Hetzjagd gipfelte in Großdemonstrationen eines aufgebrachten Mobs. Jangulbajew selbst ist aus der Region geflohen, seine Mutter wurde von Kadyrows Leuten entführt und gewaltsam nach Grosny gebracht.

Auf dem Weg vom Flughafen in Grosny zum Gerichtssaal wurden Elena Milaschina, die für das Exil-Blatt "Novaya Gazeta Europe" arbeitet, und Anwalt Alexander Nemzow von maskierten Männern gestoppt und geschlagen. Sie sollen davor gewarnt worden sein, über den Prozess zu berichten: "Verschwindet und schreibt kein Wort." Nemzow wurde ins Bein gestochen, er soll kaum in der Lage sein zu sprechen und sich zu bewegen, aber gleichwohl vorgehabt haben, der Urteilsverkündung beizuwohnen, nachdem seine Wunde genäht wurde. Stattdessen wurden Nemzow und Milaschina in ein Krankenhaus nach Ossetien gebracht, angeblich auf persönliche Anweisung von Kadyrow. Die angeklagte Sarema Musajewa bekam derweil fünfeinhalb Jahre Straflager.

Milaschinas Finger wurden gebrochen, sie soll immer wieder das Bewusstsein verlieren: "Die Journalistin hat am ganzen Körper blaue Flecken, ihr Kopf ist kahl rasiert und durch darüber geschüttete Farbe ganz grünlich. Es sei unmöglich, sie in einem solchen Zustand ohne Spezialtransport zu befördern", heißt es von der Bürgerrechtsbewegung Memorial. Fotos von Milaschina in Telegram-Kanälen zeigen sie übelst zugerichtet und völlig verstört auf einem Krankenbett sitzend.

"Daran glaubt kaum jemand"

Der Vorfall löste in Russland große Betroffenheit aus, zumal das Land nach dem gescheiterten Aufstand von Söldnerführer Prigoschin ohnehin lebhaft über Zensur, Unterdrückung und Dissidenten streitet. "Wir warten auf die Reaktion des Kremls", heißt es im Portal "Russland kurzgefasst" mit 470.000 Followern. In einem Blog war zu lesen: "Es gibt nur zwei Erklärungen für die Schläge auf die Anwälte von Sarema Musajewa in Tschetschenien: Ramsan hat die Lage in Tschetschenien nicht mehr unter Kontrolle, oder Ramsan hat die Lage in Tschetschenien vollständig unter Kontrolle. Eine dritte Theorie ist überflüssig, und beide Erklärungen sind sehr schlecht. Es gibt einen Ausweg: die Verantwortlichen öffentlich zu ermitteln und zu bestrafen. Dadurch würden falsche Erklärungen entkräftet. Aber daran glaubt kaum jemand."

"Im Maul eines wütenden Tigers"

Der russische Politikberater Jaroslaw Ignatowski wählte einen aufschlussreichen Vergleich, um das Attentat zu beschreiben: "Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt gegen Journalisten, selbst wenn es sich um begeisterte Oppositionelle und ausländische Agenten handelt. Aber dorthin zu gehen, wo die Gesetze auf ganz eigene Weise gelten und man öffentlich entweder zum Komplizen von Terroristen oder gleich selbst zum Terroristen erklärt wird, ist, als würde man seinen Kopf in das Maul eines wütenden Tigers stecken und denken, dass er einen nicht anfassen wird."

Blogger Anton Orech schreibt: "In Tschetschenien kann man eine Frau ungestraft verprügeln, ihr die Haare abrasieren und sie mit grüner Farbe übergießen. Der Anwalt wird 'einfach so' geschlagen, bis er das Bewusstsein verliert." Die Region sei gesetzlos und werde von "Banditen" dominiert. Der Vorsitzende des russischen Journalistenverbandes, Wladimir Solowjow (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen TV-Propagandisten) sagte der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, niemand habe sich an ihn wegen Hilfeleistungen gewandt. Sergej Babinets, Chef der russischen Initiative gegen Folter, bezweifelte, dass "Gangster" die Täter waren: "Das war ein Angriff auf ihre Aktivitäten."

In Tschetschenien sind Anwälte arbeitslos

"Nach der Geschichte mit Prigoschin musste Putin Schlussfolgerungen ziehen", heißt es in einem weiteren Blog: "Wenn in Ihrem Land jemand mit einem Vorschlaghammer Köpfe einschlagen lässt [Prigoschin], Journalisten und Anwälte verprügelt, Zivilisten entführt und mit Waffen bedroht, dann könnten dieselben Leute früher oder später 200 km vor Moskau landen. Wo liegt die Grenze dessen, was für Kadyrow und seine Soldateska erlaubt ist?"

Der tschetschenische Anwalt und Bürgerrechtler Akhilgov Kaloy berichtete in seinem Blog über die Zustände der tschetschenischen Justiz. Es gebe zwar rund 1.000 ausgebildete Juristen, aber fast alle seien außerhalb Tschetscheniens tätig. Nur dreißig bis fünfzig hätten den Mut, vor Ort zu arbeiten, alle anderen seien arbeitslos: "Wenn ein Anwalt gegen die Ermittler oder das Gericht vorgeht, dann kommt sofort der Leiter einer Abteilung für innere Angelegenheiten zu ihm und ermahnt ihn freundlich, dass es hier nicht nötig sei, mit seinem Wissen und seinen Beweisen anzugeben. Wenn Sie anderer Meinung sind, kommen wir Sie besuchen." Ironisch fügte Kaloy an: "Ich bin sicher, dass Ramsan Achmatowitsch der Sache auf den Grund gehen und jeden bestrafen wird, der für das, was passiert ist, verantwortlich ist. Er weiß es einfach nicht besser, gegen bewaffnete Kriminelle ist er machtlos."

"Schläger verbargen ihre Motive nicht"

Ein Blogger aus Pskow meinte: "Ein Journalist ist im modernen Russland der am wenigsten geschützte Beruf. Die Gesellschaft behandelt Journalisten als aussterbende Zunft. Unser Volk versteht eine einfache Sache nicht: Die Bürger einer Gesellschaft, in der man sich ungestraft über die Presse lustig machen kann, werden früher oder später selbst Opfer ungestrafter Gewalt. Und es wird niemanden geben, der auch nur ein paar Zeilen über diese Gewalt schreibt." Kadyrow benötige dringend einen "Tritt in den Hintern", wurde gefordert: "Auf welchem Planeten ist so was normal? Erträglich? Verzeihlich?"

Es sei offensichtlich, dass Kadyrow seine Gegner einschüchtern wollte, zeigte sich ein weiterer Netzkommentator überzeugt: "Das Abscheulichste an dieser Geschichte ist, dass die Schlägertypen nicht einmal versucht haben, die wahren Gründe für den Angriff zu verbergen, sondern den Opfern direkt ins Gesicht erklärt haben, warum sie ihnen die Finger gebrochen haben – eine in der Tat hochwertige Arbeit. Auffallend ist der absolute Glaube der Kadyrow-Leute an ihre eigene Straflosigkeit."

"Tod gemäß der Scharia"

Der frühere BBC-Mitarbeiter und russische Publizist Wladimir Dergaschew schreibt: "Die russische Regierung steht abermals am Scheideweg. Können sie das Grundprinzip des staatlichen Gewaltmonopols aufrechterhalten? Gilt im ganzen Land das gleiche Strafrecht? Oder man sollte es bei der Einreise nach Grosny besser vergessen, weil es dort ein alternatives lokales Gesetz gibt: Das Recht auf einen Vorschlaghammer, leuchtendes Grün und den Tod gemäß der Scharia." Vermutlich werde es in Moskau wieder heißen, dort "wisse man nichts" oder es handle sich um "zwielichtige Provokateure", die schlechte Stimmung machten.

"Kadyrow strebt Unabhängigkeit an"

Der Kreml steht vor einem Dilemma: Einerseits herrscht Kadyrow nahezu unumschränkt in Tschetschenien, andererseits sorgt er dort im Sinne Putins "für Ordnung" und hält antirussische Stimmungen der dortigen Islamisten unter Kontrolle. Immerhin musste Moskau zwei blutige Kriege führen, um die Unabhängigkeit der rebellischen Region zu verhindern. Andererseits drohen Kadyrows brutale und kaltschnäuzige Eskapaden Putins Autorität zu untergraben, ganz abgesehen davon, dass er mit den Tschetschenen neben Prigoschins Truppe eine zweite rebellische Militäreinheit im Lande fürchten muss - ohne über Sanktionsmöglichkeiten zu verfügen.

"Es bestehen immer weniger Zweifel daran, dass Kadyrow irgendwann die völlige Unabhängigkeit anstrebt", prophezeite ein Beobachter: "Und je mehr das russische Regime seine Schwäche demonstriert, desto eher wird dieser Moment kommen. Was ist ein starker Staat? Das ist ein Staat, in dem das Gesetz respektiert wird."

"Kreml mag nicht, wenn Regionen Probleme machen"

Politologe Sergej Starowoitow ist überzeugt, dass Ramsan Kadyrows Position wackelt: "In Tschetschenien bahnt sich eine umfassende politische Krise an, die für den Chef der Region, Ramsan Kadyrow, zum 'Milaschina-Einfallstor' werden und seine Karriere erheblich beeinträchtigen könnte, wenn seine Feinde innerhalb der Elite in Moskau und Tschetschenien sich dem Aufbauschen des Skandals anschließen. Das Gefährlichste ist, dass dieser Vorfall der Regierung in Moskau Probleme bereitet, und der Kreml mag es nicht, wenn die Regionen Probleme machen."

 Elena Milaschina (Mitte), zusammen mit der ehemaligen First Lady Michelle Obama und dem ehemaligen US-Außenminister John Kerry
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Manuel Balce Ceneta
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Elena Milaschina - hier 2013 bei der Verleihung des "International Women of Courage Award" - ist in Tschetschenien zusammengeschlagen worden.

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