Der Politiker inspiziert Rüstungsgüter
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Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigu

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"Er kann nicht gewinnen": Verteidigungsminister ängstigt Russen

Mit einer "seltsamen" Warnung vor einem Angriff auf die Krim wollte Putins Vertrauter Sergej Schoigu wohl den Westen einschüchtern. Stattdessen verärgerte er die Propagandisten und stellte seine Landsleute vor Rätsel: "Warum ist er so unglücklich?"

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Zuerst zuschlagen und dann vom Opfer unserer Aggression keinen Widerstand erwarten – genau das ist unsere Methode", spottete ein russischer Leser in der St. Petersburger Zeitung "Fontanka", ein anderer drohte damit, zur Strafe sämtliche russischen Elektroroller an die Front zu schicken, um die ukrainischen Soldaten ins Stolpern zu bringen. Der Anlass war eine vieldeutige Stellungnahme von Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Er hatte die USA und Großbritannien davor gewarnt, moderne Marschflugkörper und Raketen für den Angriff auf die von den Russen besetzte Halbinsel Krim zur Verfügung zu stellen. In diesem Fall sei der Westen "voll eingebunden" in den Krieg und Russland werde mit "sofortigen Angriffen auf Entscheidungszentren auf dem Territorium der Ukraine" reagieren. Diese Formulierung verunsicherte nicht nur den kremlnahen Politologen Sergej Markow ganz erheblich. Er wünschte sich in seinem Blog sehnlich, die "seltsame" Aussage möge sich baldmöglichst als "cool und ernst" herausstellen.

"Wir bewegten uns im Kreis"

Markow wunderte sich darüber, dass Schoigu mit Vergeltungsmaßnahmen drohte, die er schon zu Anfang des Krieges hätte anordnen können: "Russland hat so viele rote Linien gezogen und ihre Übertretung nie bestraft, daher glaubt niemand den roten Linien aus Moskau." Der Politologe fragte sich auch, ob die USA und Großbritannien nach Ansicht des Kremls immer noch nicht genug in den Krieg "eingebunden" seien, wo Putin doch seit Monaten von einem "hybriden Krieg" gegen die NATO spreche "Schoigu kennt all diese bitteren und generell schwierigen Fragen und gibt dennoch eine solche Stellungnahme ab. Warum? Es gibt für diese seltsame Aussage noch keine Erklärung."

In einem beliebten Militärblog wurde sarkastisch bemerkt, der "Worthülsen-Vorrat" von Schoigus Redenschreibern sei allmählich aufgebraucht: "Wir bewegten uns im Kreis und holten aus dem Aktenschrank vom letzten Jahr die Vorlage über 'Entscheidungszentren'." Es sei völlig unklar, was Schoigu davon abhalte, schon jetzt diese Hauptquartiere anzugreifen. Ein weiterer Blogger will schon "den Überblick über diesbezügliche Versprechen verloren" haben. Die Attacken würden "unter allen Umständen" durchgeführt - oder auch nicht. Gern verweisen die Patrioten darauf, dass nach einer neuen, natürlich rein propagandistischen Umfrage Schoigu zwar angeblich hinter Putin und Außenminister Lawrow auf dem dritten Platz der Beliebtheitsskala liege, doch mit Söldnerführer Prigoschin auf Platz fünf erstmals ein ernsthafter Konkurrent punkten konnte.

"Er weiß, er kann nicht gewinnen"

"Aussagen über die territoriale Integrität und Zugehörigkeit der Regionen Russlands sollten von Menschen gemacht werden, die sich wirklich in die Rolle der Wähler hineinversetzen können", tadelte ein Blogger und verwies darauf, dass sich die Bewohner der besetzten Gebiete im Donbass sicherlich fragten, ob sie Bürger zweiter Klasse seien, wo Schoigu doch so pathetisch vor einem Angriff auf die Krim gewarnt habe. Der kremlnahe Journalist Kyrill Wyschinski nahm den Minister dagegen in Schutz: "Mir scheint, dass solche Warnungen im Westen verstanden werden. Wir haben bereits erlebt, dass der Westen Ängste äußerte, wenn Kämpfer irgendwelcher ukrainischer Einheiten in unser Territorium eindringen und dort begannen, extremistische Aktivitäten durchzuführen. Denn im Westen haben sie Angst davor, dass der Konflikt, der schon jetzt ein ziemlich großes Ausmaß hat, noch ernstere Dimensionen annehmen wird."

Dagegen reagierten russische Leser ganz überwiegend sarkastisch auf Schoigus hilflos wirkende Drohung: "Er weiß alles, er kann nicht gewinnen", war zu lesen. Ein anderer gestand, nach 482 Tagen Krieg überrasche ihn rein gar nichts mehr. Es gab auch eine bittere Empfehlung: "Kündigen Sie die Evakuierung russischer Bürger aus Großbritannien an. Die verbleibenden Personen bleiben auf eigene Gefahr und Risiko." Jemand behauptete, die "Vogelscheuchen" würden ihn in keiner Weise mehr beeindrucken: "Und ich bluffe nicht." Auch der russische Außenminister bekam in diesem Zusammenhang sein Fett weg: "Über den großen Diplomaten Lawrow hörte man lange Zeit nichts. Warum stellt er nicht neue, mächtige Verbündete vor?! Warum stigmatisiert er niemanden von seinem hohen Rednerpult aus?! Existiert er überhaupt noch? Was macht er gerade? Ist er mit dem Abzug von Vermögenswerten von Entscheidungszentren beschäftigt?"

"Dissonanz von Informationen" beklagt

Solche leeren Drohungen verrieten nur Schwäche, hieß es. Womöglich sei Schoigu schon vor Monaten "in der Taiga eingeschlafen" und jetzt erst aufgeschreckt. Offenbar habe er jetzt die "letzte chinesische Warnung" ausgesprochen. Der Minister sehe nicht nur "uralt" aus, sondern auch so, als ob er aus Estland stamme, meinte ein Leser hämisch - dabei ist der Politiker in der südsibirischen Region Tuwa geboren, unweit der Grenze zur Mongolei. Womöglich sei Schoigu inzwischen der "Pressesprecher" des ukrainischen Verteidigungsministeriums, mutmaßte ein Leser ironisch. Er fühle sich anscheinend als "strafender Erzengel" wohl.

"Interessanterweise wissen wir nicht genau, wo diese [westlichen] Raketenanlagen versteckt sind, um sie anzugreifen, aber wir wissen mit Sicherheit, dass sie auf der Krim eingesetzt werden?! Es ist schwierig, eine solche Dissonanz in den Informationen zu verstehen", zeigte sich ein Kommentator verblüfft. Irgendwie "unlogisch" habe Schoigu argumentiert, beobachteten mehrere Blogger, und einer schrieb mit schwarzem Humor, auf den Einsatz von Kernwaffen anspielend: "Aber Sie sollten konsequent beginnen. Oder möchten Sie sofort zuschlagen? Haben Sie Eintopfvorräte gehamstert? Den Rucksack mit Erste-Hilfe-Kasten bereit gelegt?" Im Hinblick auf die vielen "roten Linien" Moskaus vermutete ein Leser, Schoigu werde sich jetzt wohl den "dicksten verfügbaren Filzstift" zulegen. Ein anderer Russe seufzte: "In der Ukraine werden sie die Trommel schlagen, sie sind nicht in Gefahr."

Will der Kreml "emotionale Temperatur senken"?

Gerüchteweise hieß es in gut informierten russischen Blogs, der Kreml sei eigentlich derzeit darauf bedacht, aus Angst vor einer "Neurotisierung" der Gesellschaft die Tonlage zu mäßigen, die "emotionale Temperatur" zu senken. So seien die Staatsmedien insgeheim angewiesen worden, weniger "hysterisch" auf das Geschehen an der Front zu reagieren und wieder mehr soziale Themen, sowie "Kultur und Sport" in den Vordergrund zu rücken. Das war als Zeichen gewertet worden, dass Putin den Boden für Verhandlungen bereiten wolle, wahlweise mit Hilfe Chinas, afrikanischer Länder oder auch der Türkei. Das Problem dabei, so Kolumnistin Ekaterina Winokurowa: Putin wolle gleichzeitig den "guten und den bösen Polizisten" spielen.

Einer der profiliertesten russischsprachigen Exil-Blogger schrieb, die von Propagandisten "aufgeheizte Gesellschaft" müsse aus Putins Sicht offenbar "abgekühlt und beruhigt werden": "Putins Treffen mit den Militärbloggern ist eines der Elemente dieser Charmeoffensive für eine der kompromisslosesten Gruppen, die Ultrapatrioten. Die Minimierung der Spezialoperation in den Nachrichten ist notwendig, um das Thema von den vordersten Plätzen der Tagesordnung zu streichen."

Womöglich ist Schoigus merkwürdig "gebremste" Warnung mit dieser taktischen Gemengelage erklärbar: Einerseits will der Kreml Selbstbewusstsein demonstrieren, andererseits in jeder Hinsicht "unaufgeregt" wirken.

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