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Puschkins Denkmal wird gereinigt

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"Um Rache flehe ich": Warum Putin von Puschkin "besessen" ist

Der finnische Präsident Sauli Niinistö will Putin "geprüft" haben, ob der wirklich Ahnung von seinem viel beschworenen literarischen Idol hat. Angebliches Ergebnis: "Er sprach eine halbe Stunde darüber. Für ihn ist das der Inbegriff Russlands."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es muss eine geradezu beklemmende Erfahrung gewesen sein, die der finnische Präsident Sauli Niinistö bei einer Begegnung mit Wladimir Putin machte. Der "New York Times" verriet Niinistö, er habe Putin aus eigener Anschauung als "konzentriert, aggressiv und bestens informiert" in Erinnerung. Im Übrigen sei er "besessen" von der russischen Kultur. Dafür gebe es auch einen aufschlussreichen, aber sehr beunruhigenden Beleg: Niinistö will Putin bei einem Treffen auf dessen Bildungsbeflissenheit "getestet" und nach dem berühmten Gedicht "Der Tod eines Dichters" von Michail Lermontow (1814 - 1841) gefragt haben. Darin geht es um das spektakuläre Duell vom 8. Februar 1837, bei dem Alexander Puschkin ums Leben kam. Wutentbrannt forderte Lermontow wenige Tage nach dem Ereignis für die vermeintliche Freveltat Rache im Namen aller Russen, war Puschkin doch ausgerechnet von einem französischen Offizier getötet worden. "Putin wusste alles darüber. Für ihn ist das der Inbegriff von Russland", so der finnische Präsident: "Er sprach darüber mehr als eine halbe Stunde."

"Erhöre mich, gerechter Richter!"

Die Anekdote wurde in russischen Medien natürlich flugs propagandistisch genutzt, sieht der Kreml den Angriffskrieg gegen die Ukraine doch nicht zuletzt als Ringen um "traditionelle Werte" und die Bewahrung der russischen Kultur. Sonderlich friedfertig mutet Lermontows Gedicht aus dem genannten Grund wahrlich nicht an: "Mein Zar! ich werfe mich vor Deine Füße,/ Um Rache fleh' ich, Rache für den Dichter -/ Gib, dass der Mörder sein Verbrechen büße,/ Erhöre mich, sei ein gerechter Richter!", heißt es in der zeitgenössischen Übersetzung von Friedrich von Bodenstedt (1819 - 1892), der Puschkin noch persönlich kannte. Der offenbar sehr aufgebrachte Lermontow fordert vom Zar, dieser solle einen Blitz "aus seiner Zorneswolke" schleudern. Über Puschkin hieß es: "Er starb wie er gelebt - ein Mann." Dagegen wird der Täter als "Abenteurer" geschmäht, der das Volk und Russlands Sitten und Gebräuche "frech" verhöhnt habe.

Lermontow wird nicht müde, vom Zaren ein "strenges Gericht" zu verlangen und die "Schlangenbrut zu zertreten", eine Umschreibung, die wohl den Westen, vor allem Frankreich, treffen sollte: "Damit nachwachsende Geschlechter nicht/ Wehklagen ob der Feigheit ihrer Väter -/ Und nicht, die unser Heiligstes verletzten,/ Sich bergen hinter schützenden Gesetzen!" Die Ironie wollte es, dass auch Lermontow bei einem Duell zu Tode kam, während der viel geschmähte Franzose Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès erst im Alter von 83 Jahren starb.

"Russe möchte vor sich selbst fliehen"

Der russische Literaturwissenschaftler Stanislaw Belkowski hatte 2016 einen Essay veröffentlicht, wonach Puschkin tatsächlich bis heute die "politische Theorie in Russland" präge: "Die Hauptsache ist, dass er die wichtigste Idee der russischen Politik und der russischen politischen Arena formulierte, nämlich die Beteiligung des russischen Volkes an der Politik. Die beruht auf der Idee der Andersartigkeit. Die Politik in Russland ist im Gegensatz zu Europa und Nordamerika, der sogenannten angelsächsischen Welt, der euroatlantischen Welt, dem Menschen nicht innewohnend , sondern transzendental. Um die bescheidene Wahlbeteiligung, insbesondere auf kommunaler Ebene, geht es Puschkin nicht." Der Kleinkram der Politik sei für Puschkin "abstoßend langweilig" gewesen.

"Ein Russe ist mit seiner bestehenden Existenz nie zufrieden. Nicht nur, weil sie zu langweilig ist, sondern weil der russische Mensch in der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihn umgibt, keine legitime Grundlage erkennt. Daher ist das Schicksal des russischen Menschen die Suche nach einer alternativen Identität", so Belkowski bezugnehmend auf Puschkin, der sich Politiker demnach überhaupt nur als "Hochstapler" oder Emigranten vorstellen konnte: "Der Russe möchte vor sich selbst und seinem angestammten Russland, das er sehr liebt, fliehen. Aber es ist unmöglich zu entkommen, denn die Anziehungskraft, der Magnetismus dieses Russlands ist gigantisch. Dieses eisige Territorium hält Sie so fest, dass Sie, selbst wenn Sie es geografisch verlassen und sich irgendwo anders wiederfinden, sei es in Kalifornien, in Australien oder sogar an der Côte d'Azur in Frankreich, geistig immer noch mit Russland verstrickt sind und immer noch interessiert sind an russischen Angelegenheiten."

"Flucht ist besser als Alltag"

Die europäische "Banalität des Guten" sei den Russen völlig fremd, argumentiert Belkowski: "All diese Steuerzahlungen, die Notwendigkeit, den Müll rechtzeitig runterzubringen und in die Tonne zu werfen, statt auf dem Balkon des Nachbarn zu entsorgen, Kinder großzuziehen. Für einen Russen ist es leicht, sich das Hemd über der Brust zu zerreißen und eine große Leistung zu vollbringen, aber es ist so schwer, die Last des Alltags zu ertragen, die durch die geografische Ausdehnung, das Klima, den Mangel an europäischen Institutionen und alles mögliche andere erschwert wird." Genervt vom Kleinklein, hielten sich die Russen lieber an ihre größten Dichter: "Flucht ist besser als Alltag. So beschrieb Puschkin die Russen. Nach ihm kam Michail Jurjewitsch Lermontow."

"Nicht von Natur aus militaristisch"

Die angeblich "imperiale" Ideologie bei Puschkin und anderen literarischen Größen Russlands wird von Experten seit Jahren kritisiert, nicht nur in der Ukraine, wo Puschkin-Denkmäler geschleift werden: "Wenn Sie nach den Wurzeln der Gewalt Russlands gegen seine Nachbarn suchen, seiner Sehnsucht, deren Geschichte auszulöschen und der Ablehnung der Ideen der liberalen Demokratie, dann finden Sie einige Antworten auf den Seiten der Werke von Puschkin, Lermontow und Dostojewski", heißt es von den Skeptikern, die in diesem Zusammenhang von einer "Romantisierung der Gewalt" sprechen, was Putins Leidenschaft für Puschkin zwangsläufig eine bittere Note verleiht.

"Ich bin nicht der Meinung, dass die russische Literatur von Natur aus militaristisch ist", sagte der in Deutschland lebende russische Autor Wladimir Sorokin im Januar diesen Jahres in einem Interview, betonte jedoch, dass Puschkin die Werte seiner Zeit vermittelt habe: "Tatsächlich war die imperiale Kriegführung damals die Norm für alle Völker." Insofern sei es "in Ordnung", wenn die Ukrainer Puschkin-Porträts auf dem Müll entsorgten. Bei russischen Klassikern wie Tolstoi, Dostojewski, Tschechow und Turgenjew machte Sorokin allerdings eine Ausnahme: "Sie waren keine Militaristen."

Puschkin hinter Stalin

Aufschlussreich ist übrigens, wie die Russen in einer alle vier Jahre durchgeführten Umfrage ihre "größten Persönlichkeiten" reihen. 2017 lag Stalin vorn, gefolgt von Putin und Puschkin. Dahinter kamen Lenin und Zar Peter der Große. Meinungsforscherin Natalja Sorkaja sagte dazu: "Nun, Puschkin taucht hier auf, denn wenn wir die Frage stellen, worauf Russland stolz sein kann, nehmen die große russische Literatur und die Kultur vordere Plätze ein, und Puschkin ist dafür mit seinem Namen Sinnbild seit der Sowjetzeit: 'Puschkin ist unser Ein und Alles', 'Puschkin ist die Sonne unserer Poesie'. Er gilt auch als Symbol des ganzen Landes."

"Wichtig, dass der Mensch sich selbst findet"

2021 "stürzte" Putin in der Rangfolge der angesprochenen Umfrage übrigens von Platz zwei auf Platz fünf und auch sein literarischer Held Puschkin büßte deutlich an Ansehen ein, wenngleich er den dritten Platz verteidigte. Stalin führt weiter mit großem Abstand. Experte Lew Gudkow erklärte das damit, dass die Erinnerung an sowjetische "Helden" zwar verblasse, aber neue nicht zu erkennen seien. Im kommenden Jahr, zum 225. Geburtstag von Puschkin, plant Putin größere Feierlichkeiten, unter anderem kündigte er ein "digitales Museum" an.

Am diesjährigen "Tag des Wissens" zum Schuljahresbeginn am 1. September ließ es sich Putin nicht nehmen, eine persönliche Kurzeinführung in Puschkins Werk zu geben: "Es ist wichtig, dass ein Mensch sich selbst findet, und wenn er sich selbst gefunden hat, dann hat er die Chance, sich maximal zu verwirklichen." Dabei zitierte er aus Puschkins Gedicht "Exegi monumentum": "Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes,/Des Volkes Pfad zu ihm wird nie verwachsen sein,/ Und höher ragt sein Haupt empor, sein nie gebeugtes,/ Als Alexanders Mal aus Stein." (Übersetzung Rolf-Dietrich Keil) Die Interpretation Putins klang so: "Widmen Sie Ihr Leben und Streben Ihrer Familie, der Welt um Sie herum im weitesten Sinne des Wortes und dem Land, in dem Sie leben. Mir scheint, dass die Kombination dieser Bestandteile einen Menschen glücklich macht."

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