Junger Mann mit Bart schaut direkt in die Kamera, dabei wirkt er verletzlich und nahbar.
Bildrechte: Carlsen Verlag 2023

Politik-Verständnis muss mit dem eigenen Leben korrelieren - Comic-Autor Ersin Karabulut warnt vor wohlfeilem, abgehobenen Moralisieren.

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"Tagebuch der Unruhe": Ersin Karabuluts autobiographischer Comic

Die Helden seiner Kindheit waren Asterix & Obelix oder Superman. Ersin Karabulut aus Istanbul ist einer der wichtigsten Comic-Künstler der Türkei. Seine Graphic Novel "Tagebuch der Unruhe" gibt es nun auf Deutsch.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Die Zeichnung – eine recht harmlose Karikatur – sorgte für Unmut: eine Katze mit dem Konterfei des damaligen Premierministers und heutigen Präsidenten der Türkei, verstrickt in einem langen Wollfaden. Der Porträtierte machte das, was er immer wieder gerne tat (und tut): Er verklagte kurzerhand den Cartoonisten Musa Kart, der die Karikatur für die Zeitung "Cumhuriyet" angefertigt hatte. Was zählt schon die Pressefreiheit?

Weiß als Künstler, wo er zu stehen hat

Ersin Karabulut erzählt in seinem "Tagebuch der Unruhe" von dieser Affäre im Jahr 2004: "Ich wäre gern als Katze gezeichnet geworden, aber er hatte dafür keinerlei Verständnis und null Toleranz. Es war eine seltsame Zeit, mir hat sie aber geholfen, denn ich habe mich entschieden, diesen Beruf weiter auszuüben – und ihn zu verstehen. Wir sind nicht nur Zeichner. Wir stehen an der Seite der Menschen, die unterdrückt werden. Und wir müssen die Mächtigen kritisieren – auch die Opposition, wenn sie Fehler macht."

Karabulut, damals Anfang 20, arbeitete als Comic-Zeichner beim Satiremagazin "Penguen" – Pinguin. Die Kollegen dort starteten eine Solidaritätskation für Musa Kart: Die nächste Ausgabe zeigte verschiedene Tiere mit dem Gesicht des Premierministers, der Titel "Erdogans Tierreich". Prompt folgte die nächste Klagerunde. Man versteht, warum Ersin Karabuluts Comic-Autobiographie den Titel "Tagebuch der Unruhe" trägt.

Drohungen waren alltäglich

"Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was geschehen würde. Was wäre, wenn Erdogan uns hinter Gitter bringen würde? Auf das Recht aber habe ich nicht vertraut. 'Penguen' hat dann gewonnen. Das ist jetzt fast 20 Jahre her. Ich weiß nicht, was heute in einem solchen Fall geschehen würde. Wir waren jedenfalls mit lauter Problemen konfrontiert. Auf der Straße, vor meinem Haus, haben mich bestimmte Leute angesprochen: 'Wir wissen, dass Du hier wohnst.' Das war stressig, meine Eltern haben sich große Sorgen gemacht."

Immer wieder hat Ersin Karabulut Geschichten aus seinem eigenen Leben in Comic-Strips erzählt. In der Türkei hatte er viele Jahre lang eine sehr beliebte Comic-Kolumne. Mit dem "Tagebuch der Unruhe" schreibt und zeichnet er nun für das Publikum im Westen Europas. Er berichtet von seiner Kindheit am Rand von Istanbul und von seinen Eltern, die beide als Lehrer arbeiteten. Der Vater malte und zeichnete in seiner Freizeit, von der Liebe seines Sohnes für die Comic-Welt war er nicht gerade begeistert. Der sollte viel lieber etwas "Richtiges" machen und Ingenieur werden.

Sein Vater empfahl noch, sich herauszuhalten

"Sie waren besorgt, aufgrund ihrer Erfahrungen in der Türkei in den 70er Jahren, vor dem Militärputsch. Im Land herrschte Chaos. Menschen haben sich gegenseitig umgebracht – Linke und Rechte. Mein Vater sagte, wir sollten uns nicht einmischen, für keine Seite Partei ergreifen. Und das, obwohl er links war."

Zur Familiengeschichte und zum Weg des Kindes in die Comic-Welt kommt die Geschichte der Türkei seit den 1980er Jahren – und damit der allmähliche Aufstieg des heutigen Präsidenten, die mit ihm verbundene Abkehr vom Laizismus und der Ausbau eines autoritären Machtsystems. Der erste Teil des "Tagebuchs der Unruhe" endet mit der Zurückweisung der Klagen gegen Musa Kart und die 'Penguen'-Zeichner – und mit einem Bild der Gegenwart: Polizisten, die brutal auf Demonstranten einprügeln, wütende Gesichter, Schlagstöcke.

Wichtige Warnung an den Westen

"In demokratischen Ländern, im größten Teil Europas, sieht man, wie gerade junge Menschen die Politik immer mehr von ihrem sonstigen Leben trennen. Das geht aber nicht, die Politik berührt uns elementar. Wenn ihr Euch nicht genug einbringt, kann man Euch die demokratischen Rechte nehmen. Das ist uns passiert. Für mich ist das eine Warnung an die Menschen in den Ländern, in denen es die Rechte gibt. Seid achtsam!"

Das "Tagebuch der Unruhe" ist toll konzipiert und gezeichnet, Ersin Karabulut zeigt sich mal als komische Figur, mal ganz realistisch, die Heldenpose ist ihm fremd. Und immer wieder sieht man sein gezeichnetes alter ego umgeben von Lieblings-Comic-Helden, darunter Spirou, Asterix und Lucky Luke. Sie machen Mut. Und mit Blick auf die weitere Geschichte des Landes – Thema auch der noch entstehenden weiteren Bände von "Tagebuch der Unruhe" – werden sie wohl noch viel Trost geben müssen.

Tagebuch der Unruhe, Teil 1 – Ersin Karabulut. 160 farbige Seiten, übersetzt von Christoph Haas, erschienen im Carlsen-Verlag, 24.10.2023, ab 12 Jahren.

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