Der Kreml-Berater auf einer Pressekonferenz
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Wladimir Medinski mit Schulbuch

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Russland schreibt Geschichte um: "Neuer Abschnitt nach Endsieg"

Der russische Präsidentenberater und Propagandist Wladimir Medinski kündigte an, sämtliche Geschichts-Schulbücher zu "überarbeiten". Auch der Kriegsverlauf soll berücksichtigt werden. Das erinnert manche Russen an George Orwells düstere Warnungen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Leser des Horror-Klassikers "1984" wissen es: In der dort beschriebenen Diktatur werden permanent alle Bücher und Zeitungen umgeschrieben, damit die alten Texte stets zur politischen Gegenwart passen. Ähnliches passiert nach Ansicht nicht weniger russischer Kritiker gerade in Putins Russland. "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Gedanken kontrolliert, kontrolliert die Realität", so der britische Autor George Orwell einst über den "Wahlspruch" des von ihm beschriebenen fiktiven Terror-Regimes. Mit der ständigen Manipulation der Archive sollte garantiert werden, dass die Herrschenden scheinbar immer nur "zutreffende Prognosen" abgegeben, sich also niemals geirrt hatten. Da passt es, dass ausgerechnet "1984" zu den derzeit meist verkauften Klassikern in Russland gehört.

Putins Berater und Propagandist Wladimir Medinski kümmert sich seit längerem um die "Geschichtspolitik" und stellte jetzt auf einer Pressekonferenz in Aussicht, dass sämtliche Geschichtsbücher bis zum Schuljahresbeginn kommenden Jahres "überarbeitet" werden sollen. Vor allem die Abschnitte über die jüngere Vergangenheit seit 1970 sollen "komplett neu geschrieben" werden. Bildungsminister Sergej Krawzow hatte zuvor angekündigt, dass "nach einem Endsieg" im aktuellen Krieg auch ein "neuer Abschnitt" in die Lehrbücher aufgenommen werden solle, ergänzt um spezielle Kurse zur Geschichte Russlands. Im Übrigen legt Krawzow nach eigenen Worten besonderen Wert auf Texte darüber, wie Russland die Weltgeschichte geprägt habe.

"Dieser Wolodja hat alles kapiert"

Experte Alexander Kubarjan von der Russischen Akademie der Wissenschaften kündigte an, die neuen Bücher würden den "Schwerpunkt" von Europa weg und hin zu Asien, Afrika und Lateinamerika verlagern. Die Geschichte Afrikas werde "fast ein Drittel" eines neuen Buches ausmachen. Das würde perfekt zu Putins aktueller Propaganda-Behauptung passen, wonach Moskau die "Vorherrschaft" des Westens, vor allem der USA, brechen will und sich als Anwalt des globalen Südens versteht. Putin selbst hatte bereits im vergangenen Februar eine "einheitliche Logik" in den Geschichtsbüchern angemahnt, die "alle Seiten der Vergangenheit" zu einer "kontinuierlichen" Entwicklung miteinander verbinde.

Russische Medien wie das Wirtschaftsblatt "Wedomosti" machten sich bereits auf die Suche nach neuen "Stellen" und sparten nicht mit Ironie. So sei in einer bereits vorliegenden Neufassung von der Ukraine nicht mehr als "Neonazi-Staat" die Rede, sondern von "einem Ultra-Nazi-Staat". In den russischen Netz-Debattenforen wird bereits angeregt über Medinskis Pläne gestritten: "Als Breschnew starb, war Medinski zwölf Jahre alt. Dieser junge Pionier wird Ihnen also jetzt erzählen, was damals alles wirklich geschah. Ich werde mit Interesse von ihm erfahren, wie wir, wie sich offenbar herausstellte, falsch gelebt und nichts verstanden haben, und dieser Wolodja hat schon damals alles genau kapiert", spottete Blogger Anton Orech.

"Spielbericht in der Halbzeitpause"

Er gab auch zu bedenken, dass der Angriffskrieg auf die Ukraine derzeit wohl kaum beurteilt werden könne, weil es noch kein "Ergebnis" gebe: "Es ist, als würde ich bereits in der Halbzeit einen Spielbericht schreiben. Geschichte ist ein Thema, das man erst dann abschätzen kann, wenn viel Zeit vergangen ist. Deshalb würde ich persönlich in der Klasse nicht alles berücksichtigen, was im 21. Jahrhundert passiert ist. Das ist noch keine Geschichte. Die Ereignisse gehen weiter, die Menschen bleiben Akteure dieser Geschichte und haben die Chance, ihre Einstellung zu sich selbst und den Ereignissen zu ändern."

Blogger Michail Winogradow erinnerte an die Erfahrungen der Sowjet-Generation mit der damaligen kommunistischen Geschichtspolitik: "Die heute 60- und 70-Jährigen lernten aus Lehrbüchern voller Verachtung für Zaren und Priester und einer demgegenüber romantischen Verklärung von Revolutionen und dem Kampf der Armen gegen die Reichen. Doch dann stellte sich heraus, dass alles nicht so linear verlief und die in der Schule vorgegebenen Werte sich allmählich veränderten. Für die Indoktrinierten selbst unbemerkt."

"Zunge herausreißen war im Mittelalter normal"

Blogger Dmitri Drize ist zuversichtlich: "Natürlich werden [in den neu gefassten Büchern] die Gründe für die Ereignisse rund um die Ukraine erklärt – und zwar auf die richtige Art und Weise." Russland habe es "schon immer" gegeben, so der kremlnahe Diskutant, der auch anmerkte: "Die zweite, nicht minder interessante These lautet, dass die Persönlichkeiten der Vergangenheit nicht anhand moderner Vorstellungen von Gut und Böse beurteilt werden können. Das trifft wohl vor allem auf Iwan den Schrecklichen und ähnliche Helden des Altertums zu. Im Mittelalter galt es als normal, jemanden auf einen Pfahl zu stecken oder ihm die Zunge herauszureißen, daher schmälern solche Taten keineswegs die Verdienste Iwan Wassiljewitschs für das Land."

Für ein paar Bürokraten im Bildungsministerium sei der ständige Neudruck der Schulbücher eine "Goldgrube", hieß es in einem Blog, wo von einem wahren "Hornissennest" die Rede ist. Ein weiterer Kommentator spottete, "Nudeln über den Ohren" verwandelten sich im Kopf schnell zu einem "Brei", eine Anspielung auf eine Geste von oppositionellen Russen. Andere witzelten, Russland gewinne den Krieg wenigstens in seinen Schulbüchern, die allerdings wohl noch mehrmals umformuliert werden müssten. Im Grunde sei die gesamte offizielle Text-Produktion nichts anderes als eine "Schule der Gleichgültigkeit".

"Jugend bereits verloren"

Ein paar "Textfetzen" aus Schulbüchern blieben immer im Hirn verhaftet, warnte ein weiterer Diskutant: "Das gilt, wenn mal die Zaren gut und dann Lenin besser ist, wenn die Revolution erst böse ist und dann die roten Kommissare mit ihren staubigen Helmen Helden und Asketen werden, wenn es mal notwendig ist, sich am Ausland zu orientieren, aber dann der Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich eine Katastrophe darstellen soll. Unterschätzen Sie also nicht die Werke von Medinski und seinen entfernten sowjetischen Verwandten."

Der offenbar Putin-treue Blogger Alexej Makarkin tröstet sich: "In einer mobilisierten Gesellschaft, die sich vorkommt wie eine belagerte Festung, spielen Schulbücher immer auch eine mobilisierende Rolle – es ist eine Frage ihres Umfangs und der Methoden. Mit den jetzt vorgeschlagenen Methoden ist unter anderem das Gefühl verbunden, dass ein großer Teil der Jugend bereits verloren, hoffnungslos in die globale Welt integriert ist und deren Werte akzeptiert hat. Daher sprechen wir über den Kampf um die Köpfe der heutigen Schulkinder."

"Märchen machen keinen Unterschied"

Auch Blogger Konstantin Kalatschow leistete sich eine gehörige Portion Ironie: "Die russische Geschichte ist die Summe all dessen, was hätte vermieden werden können. So würde ich Bertrand Russells Ansicht zusammenfassen. Die Umwandlung der Geschichte in Hysterie wird es nicht gerade erleichtern, diese Erfahrung aufzuarbeiten. Wie schon [der russische Historiker] Wassili Kljutschewski (1841 - 1911) argumentierte: Die Geschichte lehrt nichts, sondern bestraft nur die Unkenntnis ihrer Botschaften." Ohne die Pressekonferenz von Medinski hätte kein Russe das Thema überhaupt bemerkt, ätzte Blogger Andrej Proschakow: "Welchen Unterschied macht es, was für Märchen in den Lehrbüchern stehen: Alte oder neue."

"Jeder Aufstand ist böse"

Dass der Kreml für derartigen Spott wenig empfänglich ist, zeigt sich an der Meldung, wonach dem inhaftierten Regimekritiker Alexej Nawalny allen Ernstes bis in die 2050er Jahre verboten wurde, sich im Netz zu äußern. Ein entsprechender Ukas gelte bis zehn Jahre nach dem Ende seiner Haftstrafe, hieß es in einer Meldung. Nach jetzigem Stand kann Nawalny frühestens Anfang der vierziger Jahre freikommen. Dass der Kreml schon darüber hinaus denkt, beweist die ganze Absurdität der "Geschichtspolitik".

Wladimir Medinski selbst hatte übrigens nach der Rebellion der Wagner-Söldner am 24. Juni seine Auffassung der russischen Geschichte mit Verweis auf allerlei Meutereien bis zurück ins 17. Jahrhundert so zusammengefasst: "Es gibt drei Schlussfolgerungen. Gute Ziele sind keine Entschuldigung für einen Aufstand, der ist immer böse. Jede Meuterei wird in Russland niedergeschlagen. Jede Rebellion verschlechtert nur das Leben des Landes und seiner Menschen."

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