Die Poetin Polina Barskova setzt sich für den Dialog mit ukrainischen Dichterinnen ein. In Russland zirkulieren ihre Verse nur unter der Hand.
Bildrechte: Lena Karin/Hanser Verlag

Die Poetin Polina Barskova setzt sich für den Dialog mit ukrainischen Dichterinnen ein. In Russland zirkulieren ihre Verse nur unter der Hand.

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Russische Vorkriegslyrik: Polina Barskova zu Gast in München

Mit neun begann Polina Barskova zu schreiben. Als Teenagerin veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Heute lehrt die russische Lyrikerin in den USA und setzt sich für den Dialog mit ukrainischen Dichterinnen ein. Am Abend liest sie im Lyrikkabinett.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Mutabor": Das ist Lateinisch für "Ich werde verwandelt werden". Der Titel ist die motivische Klammer in Polina Barskovas erstem, auf Deutsch erschienenen Gedichtband. Die Metamorphosen, die Verwandlungen, sie betreffen Menschen, lebende und tote. Sie betreffen auch die Sprache, die Fähigkeit der Wörter, Bedeutungen auszudrücken.

Wer lacht, vergisst den Zauberspruch

"Mutabor" ist auch der Titel eines Gedichts, das auf Wilhelm Hauffs geheimnisvolles Kunstmärchen "Kalif Storch" verweist. Hier werden Menschen in Störche und andere Tiere verwandelt. Sie dürfen nicht lachen, weil sie dann den Zauberspruch "Mutabor" vergessen - und nicht wieder zu Menschen werden können.

Barskova beginnt das Gedicht mit einem Appell der Störche:

Los, lass uns das Wort aufwecken! / Man würde meinen, was haben sie nicht / Für Wörter geschmeckt, ihren Klang versuchsweise benutzt / ihre Festigkeit / Lebende Wörter, tote Wörter / Wörter ihrer Eltern, Wörter ihrer älteren Schwestern. / Sie haben sich befüllt mit Wörterbüchern Synonyme Reime

Aber, schreibt die Dichterin, das ersehnte Wort sei für immer aus der Erinnerung verschwunden. Keine Erlösung. Poesie als Verlustanzeige.

Viele russische Dichter sind verstummt

Polina Barskovas Gedichte sind im Zuge ihrer Scheidung entstanden. Ein persönlich schwieriger und trauriger Anlass. Später jedoch, sagt sie, sei viel Dramatischeres passiert. Manchmal könne man aber über schwerwiegendes Unglück nicht schreiben. Viele große russische Dichter seien wegen des Krieges verstummt: "Denn das, was jetzt passiert ist und weiter vor sich geht, überschreitet jede moralische Grenze."

"Mutabor" kombiniert biographische Skizzen, bedrängte Lebens- und Seelenräume mit Untersuchungen der Sprache, dem Sprechen an sich. Tote kommunizieren mit den Lebenden, ohne dass es dabei schaurig zugeht: Lauter Gesprächsfäden durch alle Zeiten hindurch, die die Dichterin zu vielstimmigen Collagen verdichtet, zu einem verwegenen Echoraum.

In der Katastrophe muss sich die Sprache ändern

"Vielleicht ist das mein wichtigstes Thema - das Gespräch mit den Toten", sagt Polina Barskova. "Meine Mutter ist gestorben, sie war immer meine erste Leserin und Zuhörerin, meine Muse. Dann kam Covid. Und dann begann der Krieg. Eine Katastrophe nach der anderen. Und die Katastrophe ist der Moment, in dem sich die Sprache ändern muss, damit sie uns und unsere Forderungen neu zum Ausdruck bringen kann."

Da gibt es beispielsweise "Löcher" im Leben einer unglücklichen Mutter, meist samstags und sonntags, wenn die Tochter beim Vater ist. Sie versucht die Löcher "auszufüllen“, unter anderem mit "Konversation" und "Beobachtung". Aber auch mit "einem fetten Murmeltier einer bleichen Narzisse einer erbarmungslosen Alten."

Surrealistische Ausdehnungen, um die Wucht des Schmerzes und das Groteske daran zu erfassen. Es erweist sich noch immer als elegant, dem Schrecken im Verlachen zu begegnen, ihn mit aller Unvernunft aus der Welt zu schaffen.

Dada durchzieht die Gedichte

Dada durchzieht durchgängig Polina Barskovas Gedichte: Da schnappt die Wrubel'sche Schwanenprinzessin im Kleiderschrank auf dem Bügel nach Luft. Feenhafte Krähen diskutieren ihre Beziehung. Oder "Polly geht über den Prospekt, ein Rasiermesser im linkischen Pfötchen".

Die Gedichte in "Mutabor" sind lange vor dem Krieg entstanden. Aber vielleicht gehört es zum Kerngeschäft der Poesie nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft in sich aufzunehmen. Das Gedicht "Catull 68 (A) Lissabon" kann man jedenfalls getrost prophetisch bezeichnen. Es antwortet auf Catulls Elegie 68, in die eine Klage über den Tod des Bruders eingeflossen ist.

Ich weiß nicht wo bist du mein Bruder / Womöglich gibt es dich nicht mehr / Womöglich gab es dich nie / Das Letzte woran / Ich dein Bruder oder deine Schwester mich festhielt zum Leben / War der Gedanke dass weit hinterm Meer / Mein Bruder etwas vor sich hin tut / Von mir abgelenkt / Doch jetzt scheint mir / Ich habe mich da wohin hineingelogen.

Dunkle Zeilen voller Zauber und Präzision. Das macht ihn aus - den Sound von Polina Barskova.

Heute Abend (19.06.2023) um 19:00 Uhr ist Polina Barskova im Münchner Lyrik-Kabinett zu Gast, zusammen mit ihrem deutschen Übersetzer Daniel Jurjev. Ihr Gedichtband "Mutabor" ist für 24 Euro im Hanser Verlag erschienen.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!