Wohl kaum ein neueres Gedicht ist weltweit so berühmt wie "The Hill We Climb" (Den Hügel hinauf): Die junge schwarze Autorin Amanda Gorman (25) trug es zur Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden im Januar 2021 auf den Stufen des Kapitols vor. Im Bob Graham Education Center in Miami dürfen die Grundschüler das Werk allerdings nicht mehr lesen. Grund dafür: Der Elternteil des Kindes beschwerte sich in einem Formular vom 29. März über den Text: "Er ist nicht lehrreich und enthält indirekt Hassbotschaften."
Außerdem stifte das Gedicht "Verwirrung" und "indoktriniere Schüler". Dabei wusste die Person, die sich beschwerte, nicht mal, dass Amanda Gorman die Zeilen schrieb, stattdessen wurde die TV-Talkerin Oprah Winfrey als Autorin genannt, wie dem Faksimile des Beschwerdeformulars bei Twitter zu entnehmen ist. Demnach soll sich die Person auch über zwei Bücher zur kubanischen Geschichte aufgeregt haben, sowie über eine Biografie des schwarzen Dichters Langston Hughes (1901 - 1967).
Der zuständige Ausschuss der Schule lehnte es zwar ab, Gormans Ode aus der Bibliothek zu entfernen, räumte das entsprechende Buch jedoch um, von der Grundschule in die Abteilung für die Mittelstufe: "Wir haben festgestellt, dass der Titel besser für Mittelschüler geeignet ist", sagte ein Sprecher der Schule.
Amanda Gorman schrieb auf Twitter, sie sei "am Boden zerstört". Es gehe jetzt darum, nicht nur einen Hügel zu besteigen, sondern zu "erobern". Sie verwies darauf, dass die Fälle von Buch-Zensur in den USA im vergangenen Jahr um vierzig Prozent zugenommen hätten: "Alles, was es dafür braucht, ist oft eine einzige Beschwerde. Und lasst uns ehrlich sein: Meist geht es um Autoren, die Generationen darum kämpften, mit ihren Werken überhaupt in den Regalen vertreten zu sein. Es handelt sich bei den zensierten Titeln überwiegend um Werke von queeren und nicht-weißen Stimmen." Kinder würden durch das Leseverbot ihres Gedichts um ihr Recht gebracht, "frei zu denken und zu sprechen".
"Kritiken brauche ich nicht"
Gormans Verlag Penguin will demnach rechtliche Schritte gegen den Landkreis einleiten, in dem die Schule steht. Gorman selbst sagte: "Sie verbannen mein Buch vor den Augen junger Leser, verwechseln mich mit Oprah, versäumen aufzuführen, welche Teile meiner Poesie sie stören, weigern sich, irgendwelche Kritiken zur Kenntnis zu nehmen und nennen keine Alternativen." Tatsächlich hatte die sich beschwerende Person die Frage, ob sie "professionelle Kritiken" gelesen habe, mit dem Satz beantwortet: "Brauche ich nicht."
Der Vorfall ist vor allem deshalb brisant, weil der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, unter dem Kampfbegriff "Stärkung der Elternrechte" seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen liberale Werte und Gender-Themen führt und dabei vor allem mit dem Disney-Konzern aneinander geraten ist. Vor wenigen Tagen unterzeichnete DeSantis ein Gesetz, wonach Schulen alle Bücher, die von Eltern beanstandet werden, innerhalb von fünf Tagen aus ihren Büchereien entfernen müssen. Innerhalb dieser Frist sollen eigens berufene Ausschüsse darüber befinden, ob die jeweiligen Titel dauerhaft verboten bleiben.
DeSantis will gegen Donald Trump um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner antreten und steht unter doppeltem Druck: Einerseits muss er versuchen, möglichst viele Trump-Fans von sich zu überzeugen, darunter nicht wenige Rechtsradikale, andererseits setzt er auf die (vergleichsweise wenigen verbliebenen) Republikaner, die Trumps Brachial-Stil ablehnen. Dass alle großen US-Medien über den Wirbel um Gormans Gedicht berichten, kann DeSantis in einer Woche, in der er seinen Vorwahlkampf starten will, alles andere als recht sein.
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