06.06.2023, Kiew: Präsident Selenskyj berät mit dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat die Lage nach der Zerstörung des Staudamms.
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Präsident Selenskyj berät mit dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat die Lage nach der Zerstörung des Staudamms

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Zerstörter Staudamm - Das sind die Folgen für Kiews Offensive

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat katastrophale Folgen für Mensch, Tier und Umwelt am Dnipro. Genau entlang des Frontverlaufs im Süden der Ukraine überschwemmen gewaltige Wassermassen die Landstriche. Was heißt das für Kiews Gegenoffensive?

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In wenigen Sätzen skizziert Hanna Maliar, die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin, die militärischen Folgen des Staudammbruchs in der Ukraine: Die "absichtliche" Zerstörung des Damms sei von den russischen Besatzungskräften mit dem Ziel verübt worden, um die ukrainische Gegenoffensive zu stoppen. Zudem wolle Russland die Aufmerksamkeit von den Geschehnissen in der Region Belgorod ablenken. Dort liegen einige russische Grenzorte seit Tagen unter Beschuss durch selbsterklärte russische Freiwilligenverbände.

Auch der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk nannte die Zerstörung des Kachowka-Staudammes im Interview mit BR24 ein "enormes Kriegsverbrechen". Es bestehe "gar kein Zweifel", dass die Russen dafür verantwortlich seien, sagte Melnyk. "Der Staudamm war seit den ersten Wochen der russischen Okkupation unter russischer Besatzung."

Melnyk: Russen geraten in Panik

"Die Russen geraten in Panik, weil die Ukraine die Gegenoffensive vorbereitet", fuhr Melnyk fort. Das sei der Grund, warum sie bereit seien, solche Verbrechen zu begehen, die katastrophal seien für Menschen und Tiere.

Wenig überraschend verbreitet Moskau gegenteilige Behauptungen. So stellt Russlands Verteidigungsminister Sergei Shoigu am Nachmittag in einer schriftlichen Erklärung die militärisch wenig plausible These auf: Die Ukraine habe den gewaltigen Staudamm zerstört. Warum? Um einen "russischen Angriff auf Cherson zu verhindern".

Die Großstadt am Unterlauf des Dnipro konnte im November von den ukrainischen Streitkräften zurückerobert werden. Die russischen Angreifer mussten sich auf die besetzten Gebiete östlich des Stroms zurückziehen. Eine solche Äußerung des russischen Verteidigungsministers, einen Tag, nachdem sein Ressort den ersten Beginn der seit langem erwarteten ukrainischen Gegenoffensive bestätigt hat, stellt in zentralen Punkten die erkennbare militärische Lage auf den Kopf.

Der Strom als Frontverlauf

Der Dnipro markiert seit vergangenem November den Frontverlauf von Saporischschja bis zur Flussmündung ins Schwarze Meer. Kherson liegt vom Kachowka-Staudamm, den die russischen Streitkräfte kurz nach Beginn ihres Angriffskriegs unter ihre Kontrolle gebracht haben, rund 50 Kilometer flussabwärts. Das Kernkraftwerk Saporischschja befindet sich rund 200 Kilometer flussaufwärts.

Entlang des südlichen, von kleinen Flussinseln und Nebenarmen des Stroms geprägten Dnipro-Abschnitts hatten zahlreiche Militärexperten damit gerechnet, dass dort eine der möglichen Stoßrichtungen der ukrainischen Gegenoffensive durchgeführt werden würde. Von westlichen Verbündeten der Ukraine, vor allem von Großbritannien, erhielt Kiew von Ponton-Legepanzern bis zu schnellen Kommando-Booten zahlreiche Militärgüter, die für eine Überquerung des Dnipro erforderlich sind.

Zugleich übten einzelne ukrainische Spezialkräfte entlang des westlichen Flussufers die Optionen für einen solchen risikoreichen Vorstoß auf die östliche Seite, die von Russland besetzt ist. Diese Möglichkeit eines Übersetzens über den Dnipro ist für die ukrainischen Streitkräfte mit der katastrophalen Überflutung der Landstriche zunichtegemacht worden. Etwaige Vorbereitungen und Planungen, die russischen Besatzungstruppen mit einer raschen Flussüberquerung in Bedrängnis zu bringen, muss die Ukraine jetzt erstmal zur Seite legen.

Militärische Vorteile Russlands

Die russischen Streitkräfte laufen an diesem wichtigen Frontabschnitt nicht mehr länger Gefahr, dass ukrainische Einheiten zwischen dem Staudamm und Kherson übersetzen und sie dort angreifen können. Demzufolge läge es für Moskau nahe, die Truppenstärke entlang dieses Abschnitts zu verringern und ihre bisherigen Abwehrstellungen an anderen Frontabschnitten zu verstärken.

Mit der Zerstörung des Staudamms hätte Russland die befürchtete Flussüberquerung der ukrainischen Streitkräfte zu verhindern versucht, analysiert das ukrainische Südkommando. Das sei eine "hysterische Reaktion" Russlands gewesen. Der deutsche Militärexperte Nico Lange twitterte bereits am Morgen: Russland gewinne nun Zeit und könne seine Einheiten an anderen "Frontabschnitte im Süden und Osten" umgruppieren. Genau zu dem Zeitpunkt der ersten deutlichen Anzeichen der ukrainischen Gegenoffensive nehme Russland der Ukraine "einige Optionen, zumindest für Nebenstöße".

Katastrophale Folgen kaum abzuschätzen

Der Staudammbruch verursacht enorme humanitäre und ökologische Schäden, die längst noch nicht abzusehen sind. Die ukrainische Bevölkerung sowie Rettungsdienste und Katastrophenhelfer werden in den betroffenen Regionen über längere Zeit mit der Versorgung von Vertriebenen beschäftigt sein. "Wir erwarten den Höhepunkt (der Flutwelle) zwischen heute Nacht und morgenfrüh," so der Chef des staatlichen ukrainischen Wasserkraftunternehmens am Dienstagnachmittag.

Danach werde das Wasser innerhalb von zwei Tagen langsam sinken. Nach zehn Tagen würden die Fluten verschwunden sei und dann "werden wir die Konsequenzen dieser Katastrophe sehen". Abzusehen sei allerdings jetzt schon, dass es zu massiven Engpässen bei der Trinkwasserversorgung in den Regionen Saporischschja und Kherson kommen werde. Die Schäden für die vielfältige Tier-, Vogel- und Fischwelt sowie das Ökosystem sind nicht abzuschätzen. Die Katastrophe werde unmittelbare und zugleich auch langfristige Auswirkungen auf die Umwelt haben, heißt es in ersten Einschätzungen westlicher Forschungseinrichtungen.

Große Sorgen machen auch die Umweltschäden, die durch die Überflutung von Industrieanlagen verursachen werden. Bereits jetzt schon sind nach Angaben der ukrainischen Regierung 150 Tonnen Maschinenöl in den Strom geflossen. Weitere 300 Tonnen könnten dazukommen. Ein massives Fischsterben würde die Folge sein, in der Region, die von Naturparks entlang des unteren Flusslaufs sowie von Biosphären-Reservaten gekennzeichnet ist.

Im Video: Der ukrainische Vize-Außenminister Melnyk im Interview

Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk
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Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk

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