Bei einer Pressekonferenz Ende Mai 2023
Bildrechte: Wadim Sawitsky/Picture Alliance

Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigu

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Völlige Entwertung": Absurde Putin-Propaganda erbost Russen

Das russische Verteidigungsministerium sprach von abgeschossenen deutschen Leopard-Panzern, die bei näherer Betrachtung verdächtig Traktoren ähnelten. Es mache eben mehr "Arbeit", echte als fiktive Erfolge darzustellen, schimpfen Militärblogger.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der Kreml scheint kommunikativ nicht aus der Defensive zu kommen, ganz im Gegenteil: Präsident Putin absolvierte nach dem Dammbruch bei Nowa Kachowka zwar etliche zweitrangige Termine, fand aber keine Zeit, sich zu der Überschwemmungs-Katastrophe zu äußern, wie aufmerksame russischsprachige Exil-Medien bemerkten. Es war Putin augenscheinlich wichtiger, Orden zu verleihen und Dekrete zu unterzeichnen. Er fand auch genügend Muße, um russische Taxifahrer aufzufordern, einheimische Autos zu bevorzugen und sich für eine Wiederbelebung des Technischen Zeichens in russischen Schulen einzusetzen.

"Fünf Mal die Weltbevölkerung ausgelöscht"

Verteidigungsminister Sergej Schoigu, langjähriger Vertrauter des Präsidenten, geriet derweil noch stärker unter "Beschuss" der Propagandisten, die ihn ohnehin seit Monaten als unfähig und zögerlich kritisieren: "Unsere Erfolge überzeugend darzustellen, ist auch eine Art harte Arbeit. Vor allem dann, wenn es um reale, nicht fiktive Erfolge geht", schimpfte der populäre Blogger Semjon "Wargonzo" Pegow mit seinen 1,3 Millionen Abonnenten: "Der Wunsch, diese Erfolge absurd zu übertreiben oder irgendwie übertrieben zu verkaufen, führt tatsächlich zu ihrer völligen Entwertung." Die "heldenhaften Anstrengungen" der russischen Soldaten würden "auf Null reduziert", Wut und Zorn seien die Folge.

Unmittelbarer Anlass für diesen Blogeintrag war eine Meldung des russischen Armeesprechers, wonach die Truppe am 5. Juni acht ukrainische Leopard-Panzer aus deutscher Produktion abgeschossen habe. In drei Tagen sollte die Ukraine demnach fast viertausend Soldaten und rund fünfzig gepanzerte Fahrzeuge verloren haben. Das befremdete nicht nur "Wargonzo". Wenn es mit den Zahlen so weitergehe, ätzte Söldnerführer Prigoschin, werde Russland in Kürze "fünf Mal die gesamte Weltbevölkerung ausgelöscht" haben und mit den "Außerirdischen" weitermachen müssen.

"Panzer als Erntemaschinen getarnt"

Zu einem verschwommenen Video, mit dem Schoigus Leute ihre "Leoparden-Jagd" beweisen wollten, hieß es kurz nach der Veröffentlichung auf dem kremlnahen Portal Rybar (1,1 Millionen Fans): "Aufmerksamen Benutzern ist aufgefallen, dass die zerstörte Maschine viel mehr wie ein John Deere Mähdrescher 4830 aussieht. Wenn man in das Bild hineinzoomt, kann man in den Konturen des Objekts tatsächlich etwas erkennen, das einer landwirtschaftlichen Maschine ähnelt." Sarkasmus sei allerdings fehl am Platze, milderte Rybar seine Analyse ab, es reiche schon aus, wenn Schoigu sein Material künftig "sorgfältiger" prüfe.

Prigoschin vermutete ironisch, die Panzer seien vermutlich als "Erntemaschinen getarnt" gewesen, was den scharfen Augen der russischen Behörden aber nicht entgangen sei: "Es gibt kein Management, keine Planung, keine Vorbereitung, keinen gegenseitigen Respekt. Und dann wird das alles durch Wutanfälle an der Spitze ersetzt. Wir werden jetzt schwere Verluste erleiden, da bin ich mir absolut sicher. Wir werden sicherlich einen Teil der Gebiete verlieren."

"In dieser Lage nicht sehr gut"

Kolumnist Alexej Moschkow schrieb in einer Analyse für das russische Portal "VNNews": "Das Fehlen einer kohärenten Reaktion des Kremls auf das Kriegsgeschehen verrät zumindest seine Bestürzung und Verwirrung. Sie wissen nicht, was sie tun oder sagen sollen. Deshalb schweigt das Verteidigungsministerium entweder oder berichtet ausschließlich über Erfolge. Das führt bei einigen Bürgern der Russischen Föderation zu falschen Vorstellungen über den Kurs der Spezialoperation und bei anderen, die mit der Sachlage etwas vertrauter sind, zu Irritationen und Unzufriedenheit. Was wiederum in dieser Lage nicht sehr gut ist, da es möglicherweise zur Destabilisierung der Gesellschaft beiträgt."

"Wow, so ein riesiger Unterschied"

In den Leserforen russischer Zeitungen wird Schoigu mit Hohn und Spott geradezu überschüttet: "Baron Münchhausen raucht nervös am Spielfeldrand und heult vor Neid", war da zu lesen. Oder: "Auch wenn man alles wie üblich durch die Zahl Pi dividiert – das ist zu viel." Ein weiterer Leser erinnerte an das Kartenspiel BlackJack (17 und 4). Es sei so ähnlich, als ob Schoigu immer wieder behaupte, er habe 19 Punkte auf der Hand und sein Blatt nicht zeigen wolle, mit der Begründung: "In unserem Verein ist es üblich, dass Herren sich auf ihr Wort verlassen!" Selbstverständlich zitierten Leser auch die berühmte Münchhausen-Anekdote vom Ritt auf der Kanonenkugel, um Schoigus Einlassungen als Fabeln zu entlarven.

"Wow, so ein riesiger Unterschied bei den Verlusten", wunderte sich ein Kommentator sarkastisch: "Es stellt sich heraus, dass die ukrainische Armee 50-mal schlechter ist als die russische? Das gilt umso mehr, als die Ukrainer zu einer Zeit, als sie sich intensiv auf eine Gegenoffensive vorbereiteten, dafür ihre besten Kräfte zusammenzogen. Mir scheint, dass es bei einem solchen Unterschied in der Qualität der Armeen hätte enden sollen, ohne überhaupt richtig begonnen zu haben."

"Oberbefehlshaber hat nichts damit zu tun"

Extremist Strelkow argumentierte hämisch, Russland könne trotz einer ukrainischen Offensive eigentlich nur gewinnen: "Wenn die Offensive erfolgreich abgewehrt wird, wird [Kremlsprecher] Peskow (oder sogar Putin selbst) herauskommen und erzählen, dass er 'jeden Tag rund um die Uhr an einem Kampfposten seinen Mann gestanden' sei. Und wenn wir nicht standhalten - nun ja, dann wird Prigoschin allen noch einmal und in noch härteren Worten sagen, was für ein schlechtes Verteidigungsministerium wir haben und jeder wird kapieren, dass unser Oberbefehlshaber absolut nichts damit zu tun hat."

Blogger Kirill Kachow vertrat sogar die These, der Kreml bereite sich schon auf den Kampf mit den eigenen Propagandisten vor. So sei eine Strafgesetzreform in der Mache, wonach Beamte wegen vorsätzlicher Vergehen nicht mehr härter bestraft werden sollen als normale Bürger: "Von der Front kommen keine guten Nachrichten, deshalb muss das emotionale Ungleichgewicht patriotischer Menschen (von denen viele Polizeibeamte, Militärangehörige oder Regierungsbeamte sind) ausgeglichen werden durch bestimmte rechtliche Garantien ihrer offiziellen hervorgehobenen Stellung im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Lebenssystem unseres Landes." Bei der Unterdrückung "groß angelegter Proteste patriotischer Menschen" müssten sich die ähnlich denkenden Ordnungskräfte mit Tätlichkeiten demnächst weniger zurückhalten.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!