Ein typisches Bild: Hannah Arendt, rauchend
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Neue Biografie: Wer war Hannah Arendt?

Sie war eine der faszinierendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Viel gelesen, viel zitiert, viel kritisiert. Dem noch etwas hinzuzufügen, ist nicht einfach. Eine neue Biografie über Hannah Arendt versucht es dennoch. Gelingt es?

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Hannah Arendt war die Denkerin mit der Zigarette. Konfliktbereit, bewundert, umstritten. Nannte man sie eine Philosophin, widersprach sie: Ihr Beruf sei nicht Philosophie, sondern politische Theorie.

Und das Politische fasste Arendt sehr grundsätzlich. Eigentlich beginne es für sie schon im Moment der Begegnung, meint ihr Biograf Thomas Meyer im Interview mit dem BR. Das Gespräch sei der Glutkern des Politischen. "Das 'ego sum', die Selbstbezogenheit, die reine Reflexion kann niemals politisch werden. Das Politische beginnt erst mit zweien."

Thomas Meyer, das stellt er gleich im Vorwort seiner neuen Biografie klar, will nicht der oft beschworenen "Aktualität" Arendts auf die Spur kommen, sondern sie "in ihrer Zeit" porträtieren.

Von der Praxis in die Theorie

Arendt wurde 1906 in eine gutbürgerliche jüdische Familie aus Königsberg geboren, studierte Philosophie bei Martin Heidegger in Marburg und Karl Jaspers in Heidelberg. Früher und klarsichtiger als andere erkannte sie, was der Aufstieg des Nationalsozialismus bedeutete. 1933 floh Hannah Arendt nach Frankreich, 1941 entkam sie von Lissabon aus in die USA. In den Jahren zwischen beiden Fluchten lebte sie meist in Paris. Auf diese Zeit legt Thomas Meyer einen Schwerpunkt seiner Biografie. Arendt arbeitete damals für eine jüdische Organisation, die Kinder und Jugendliche nach Palästina brachte. Eine Zionistin also? Wenn, dann keine restlos überzeugte, sondern eher eine aus Not, die unermüdlich Briefe und Berichte schrieb, Geld und Visa organisierte, um Menschen zu retten.

Die Erfahrungen, die Arendt in Paris gemacht habe, seien für die Entwicklung ihres Werks zentral gewesen, meint Meyer. Und vor allem für ihre Kritik an der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis. "Ein wie auch immer geartetes Reflektieren muss einhergehen mit dem, was sie 'Soziale Arbeit' nennt, also dem aktiv werden, dem Beteiligtsein", erklärt der Biograf.

Hannah Arendt: Aktivistin auf Zeit

Thomas Meyer hat bisher unbekanntes Archivmaterial zu den Pariser Jahren ausgewertet und zeichnet Arendts Tätigkeit akribisch nach. Eine beeindruckende und aufschlussreiche Forschungsarbeit – für das Verständnis von Arendts Werk allerdings weniger entscheidend, als das Buch behauptet. Aktivistin war Arendt nur auf Zeit, und dass die Erfahrung von Ausgrenzung und Exil für sie alles verändert hat, ist schon lange Teil ihrer Lebenserzählung.

Ihr Denken wurde politisch, was für Arendt auch hieß, das "Risiko" der Öffentlichkeit einzugehen, wie sie selbst es formuliert hat. Sie war, das arbeitet Meyer überzeugend heraus, eine Medienintellektuelle. Sie schrieb für Zeitungen und Magazine, hielt Reden und war 1964 zu Gast im Fernseh-Interview mit dem Journalisten Günter Gaus.

Als Philosophin in der Öffentlichkeit

Ein legendäres Gespräch: Im ZDF konnte man damals und auf YouTube kann man immer noch die Frau im strengen Kostüm bei der Verfertigung der Gedanken beim Reden und Rauchen beobachten.

Doch auch das Radio hat Arendt früh für sich entdeckt – eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war gefragt, auch im "Nachtstudio" des Bayerischen Rundfunks, und was sich in den Archiven findet, ist heute der Ton eines vergangenen Radiozeitalters. Man hört hier: Theorie bei der Arbeit. Und: Meinungsbildung als Übung in Pluralismus.

"Sie war unglaublich flexibel, wenn es darum ging, ihre Stimme im wahrsten Sinne des Wortes in das Ohr und damit ins Hirn der Hörerinnen und Hörer zu bringen", betont Thomas Meyer. Natürlich habe Arendt wirken wollen. Geschummelt habe sie, als sie gegenüber Günter Gaus das Gegenteil behauptet habe. "Selbstverständlich war Hannah Arendt an Wirkung interessiert."

Und diese Wirkung hält bis heute an, fast 50 Jahre nach ihrem Tod.

Die Biografie klammert die Aktualität Arendts zu sehr aus

Arendt wird oft zitiert – nicht immer richtig –, viel gelesen, auch kritisiert, etwa von postkolonialer Seite. Bediente sie rassistische Klischees? Oder war sie die erste, die unterschiedliche Gewaltgeschichten wie Antisemitismus und Rassismus zusammen denken wollte? Was lernt man aus Arendts Idee, dass Konflikte zum Wesen des Politischen gehören, für die beliebte Diagnose von der "Spaltung der Gesellschaft"?

Fragen wie diese umschifft der historische Zugriff von Thomas Meyer. Natürlich muss nicht jede Biografie einer Person der Zeitgeschichte die Gegenwart einbeziehen, im Falle von Hannah Arendt aber wäre genau das ein Gewinn gewesen.

Und noch etwas trübt die Lektüre ein wenig: Leicht zu lesen ist dieses Buch nicht. Manchmal, weil es viel voraussetzt, aber auch, weil es der Darstellung an Klarheit fehlt. Erstaunlich genug, denn Thomas Meyer kennt Arendts Werk wie wenige sonst. Das bleibt Grund genug, sein Buch zu lesen.

"Hannah Arendt. Die Biografie" von Thomas Meyer ist im Piper Verlag erschienen und kostet 28 Euro.

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