Eine Frau sitzt in einem Gerichtssaal.
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Sandra Hüller in einer Szene des Films "Anatomie eines Falls"

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Und nichts als die Wahrheit: "Anatomie eines Falls" nun im Kino

Mann tot, Frau vor Gericht. Nüchtern. Oder gefühlskalt? Kann die Justiz ihr gerecht werden? Lässt sich die Wahrheit ermitteln? Diese Fragen stellt Justine Triet in ihrem Kino-Puzzle "Anatomie eines Falls", das schon in Cannes die Filmfans berührte.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Die Frage, mit der das Drama "Anatomie eines Falls" beginnt, ist denkbar simpel: "Also, was wollen Sie wissen?" Der Satz – in dem weit mehr drinsteckt, als man zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise ahnen kann – ist der Anfang eines Interviews, geführt in einem abgelegenen Chalet am Fuße der französischen Alpen. Die Schriftstellerin Sandra Voyter, dargestellt von einer phänomenal agierenden Sandra Hüller, lebt hier seit knapp zwei Jahren mit ihrem Mann und dem gemeinsamen elfjährigen Sohn. In ihren Büchern verwebt sie Persönliches mit Fiktionalem, erschafft zum Beispiel eine Romanfigur, die wie ihr Sohn nach einem Unfall erblindet ist. Eine Grenzüberschreitung, sagen die einen. Das Geheimnis ihres Erfolgs, sagen die anderen.

Was Voyter selbst dazu zu sagen hat, erfahren wir nicht. Mal weicht sie den Fragen ungelenk aus, mal wird das Gespräch zum unverständlichen Hintergrundgemurmel, weil die Kamera ins Zimmer des Sohnes wechselt. Oder es dröhnen plötzlich ohrenbetäubende Musik, Gehämmer und Bohrgeräusche aus dem Dachgeschoss, das von Sandras Mann renoviert wird. Auch wenn sie nach Außen die Fassung wahrt – kurzen Mimik-Entgleisungen lässt sich entnehmen, dass in der Beziehung einiges im Argen liegt und die passiv-aggressiven Lärmkaskaden mit Absicht durchs Haus gejagt werden.

Weit mehr als ein ausgeklügeltes Justizdrama

Alltäglicher Familienwahnsinn? Ja und nein. Vor allen Dingen ist diese nur wenige Minuten kurze Auftaktsequenz die bis ins kleinste Detail durchkomponierte Ouvertüre zu einem der komplexesten Dramen dieses Kinojahres. Wenig später ist Sandras Mann erstmals zu sehen – er liegt tot im Schnee vor dem Haus. Ob er aus dem Dachgeschoss gestürzt ist oder Sandra ihn gestoßen hat – diese Frage beschäftigt Angehörige und Richter, Polizei und Medien, die Öffentlichkeit und nicht zuletzt das Kinopublikum. Dass die zwar geschockte, aber nie von Trauer überwältigte Frau ihre Unschuld beteuert, ist irrelevant. Denn vor Gericht, erklärt ihr bester Freund und Anwalt, werden Argumentationsketten so lange geschmiedet, bis sie hieb- und stichfest scheinen.

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Szene aus dem Film "Anatomie eines Falls"

"Anatomie eines Falls", in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, ist weit mehr als ein ausgeklügeltes Justizdrama. Regisseurin Justine Triet, die das Drehbuch mit ihrem Lebensgefährten Arthur Harari verfasst hat, inszeniert ihren Film wie ein Puzzle. Das Bild der Angeklagten wird zusammengelegt aus sich nach und nach offenbarenden Charakterzügen, toxischen Dynamiken innerhalb ihrer Ehe und nicht zuletzt einer Vielzahl individueller Fremdurteile.

Zweieinhalb Stunden psychologische Kriegsführung

Sandra Hüllers Figur steht dabei stellvertretend für jede Frau, die mit veralteten Geschlechterklischees bricht und durch ihr selbstbewusstes Auftreten Misstrauen erregt. Sie ist erfolgreich im Beruf, aber im Beziehungsleben gescheitert. Ihr Gefühlsleben hält sie unter Verschluss, ihr nüchternes Verhalten wird als emotionale Kälte interpretiert – im Gerichtssaal wie auch im Familienkreis. Nicht mal ihr kleiner Sohn weiß, ob er seiner Mutter vertrauen kann – schließlich ist sie durch ihre Autorentätigkeit meisterhaft darin, Realität und Fiktion zu vermengen und glaubwürdige Figuren zu schaffen. Warum also nicht die einer unschuldig des Mordes Verdächtigten?

Wie Justine Triet ihr Kinopublikum involviert, es durch wechselnde Kameraperspektiven mal in die Position des Richters, mal in die des mehr oder weniger neutralen Beobachters versetzt, ist ebenso meisterhaft wie beklemmend. Nach zweieinhalb Stunden psychologischer Kriegsführung ist man fast schon körperlich mitgenommen und in gewisser Hinsicht bei der Eingangsfrage angekommen: Was wollen Sie wissen? Die Wahrheit? Und nichts als die Wahrheit? Oder ein Konstrukt, das Ihr eigenes Urteil berücksichtigt?

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