Auf einer schemenhaften Abbildung voller Grautöne ist im Zentrum der Mast eines Segelschiffs zu sehen.
Bildrechte: Lanbbachhaus, Tate Museum,

Im Kunstbau am Lenbachplatz zu sehen: William Turners "Schneesturm".

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In Farben und Licht verloren: William Turner im Lenbachhaus

Der Maler William Turner gilt bis heute als Visionär des 19. Jahrhunderts. In seinen Landschaftsbildern entfaltet die Farbe eine ungeahnte Freiheit. Jetzt sind Turners Gemälde in München zu sehen, die Schau des Jahres!

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Ein bisschen ungewöhnlich ist das ja schon: Da steht man mitten in Süddeutschland zwischen bayerisch-griechischen Tempelvisionen und zeitgenössischer U-Bahn auf einer Rolltreppe, um sich im Münchner Untergrund Bilder eines englischen Landschaftsmalers anzuschauen.

Gleich das erste Gemälde zieht einen sofort rein in den Bildkosmos des 18., 19. Jahrhunderts, beziehungsweise raus aus dem eigenen Alltag: eine nächtliche Szene, ein paar Ruderboote schälen sich aus dem Dunkel, darüber ein Vollmond, so hell und rund und leuchtend, dass man meinen könnte, das Bild habe ein Loch und würde von hinten angestrahlt. In dieser Ausstellung begegnet man unterschiedlichsten Landschaften und Stimmungen zwischen nächtlicher Ruhe und berstender Dramatik: Weiß wälzen sich die Schneemassen einer Lawine durchs Bild, Gesteinsbrocken wirbeln umher, als seien sie aus Styropor. In einer Ansicht von Venedig hingegen lösen sich die Dinge auf: Häuser, Stege, Boote, der Horizont: Alles verschwimmt zu reinem Licht.

Licht und Farbe stehen im Zentrum

"Vielleicht hat Turner als einer der ersten begriffen, wenn man Licht darstellen will, dass halt dann die Kontur eines Berges nicht mehr das Zentrale ist, sondern wirklich das, was das Licht mit der Atmosphäre macht", sagt Kuratorin Karin Althaus.

Turner war Landschaftsmaler durch und durch, hier und da malte er auch historische oder mythologische Szenen, aber das wirkt alles wie Alibi. Was Turner interessierte, war das Wetter, das Licht, die Luft, die Atmosphäre. Zeit seines Lebens suchte er nach neuen Möglichkeiten, diese Dinge darzustellen und sprengte dabei den Rahmen dessen, was zu seiner Zeit üblich war.

Moderne Maltechniken

Es gibt Bilder, auf denen kann man das Gewebe der Leinwand noch erkennen. Auf anderen hat er die Farbe mit dem Spachtel auftragen, hat mit dem Holzgriff des Pinsels hinein gekratzt oder gleich alles mit den Fingern verwischt. Manche seiner Venedig-Ansichten sehen aus, als habe jemand einen Becher Wasser auf die fertige Zeichnung gekippt: Farben und Linien rutschen nach unten, in den Kanal hinein. Man wisse auch nicht genau, wo eigentlich der Horizont sei? Wo das Wasser aufhöre und der Himmel beginne, so Althaus. "Man kann wirklich sehr gut verstehen, dass ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts ein bisschen Orientierungsschwierigkeiten hatte bei diesen Gemälden."

Bildrechte: Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo / Foto Tate
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William Turner: Der Hafen von Brest: Die Kaianlage und das Château, ca. 1826-28

Turner wurde schon zu Lebzeiten hochverehrt. Kritiker lobten ihn in höchsten Tönen, und er verkaufte so gut, dass er es – aus einfachen Verhältnissen stammend – zum reichsten Maler der Nation brachte. Bis die Stimmung irgendwann kippte. 1842 malte er einen Dampfer im Schneesturm: ein wahres Kraftgewitter, ein einziges Helldunkel aus Weiß, Grau, ein bisschen Braun und Gelb. Irgendwo blitzt ein Stück blauer Himmel auf – wo der Horizont verläuft, weiß man deswegen noch lange nicht. Immer wieder wechseln die Farbmassen die Richtung, hier bäumt sich etwas auf, dort saust etwas nieder. Ein längliches dunkles Etwas entpuppt sich als Schiff, ein einzelner Mast mit Fähnchen obenauf verrät es.

Dem realen Empfinden abgerungen

Das Ganze entsprang nicht etwa Turners Fantasie, Turner war in jener Sturmnacht tatsächlich auf diesem Schiff: "Er hat sich von der Mannschaft an den Mast des Schiffes binden lassen, damit er den Schneesturm wirklich direkt beobachten konnte, und hat diesen Eindruck dann versucht, in ein Gemälde zu übersetzen", so Althaus. "Und die Kritik ist ausgeflippt. Die haben nicht verstanden, was dieses Bild, das fast nur aus Hell und Dunkel, aus Wirbeln, aus Gischt, aus Wolkenrauch vom Dampfschiff besteht, wie das genau funktioniert."

Doch die Schau im Lenbachhaus kann mehr als Überwältigung und versucht, auch den Menschen Turner zu zeigen. Turner war Professor für Perspektive, wobei er bei seinen Vorlesungen offensichtlich so nuschelte und die eigens von ihm gemalten großen Schaubilder von seinem Gehilfen so schnell ausgetauscht wurden, dass die Studenten nicht recht folgen konnten.

Romantischer Sonderling und Eigenbrötler

Zum öffentlichen Turner gehören auch die Ausstellungen in seiner eigens erbauten Privatgalerie. Vor dem Einlass ließ er Besucher einige Zeit im Dunkeln warten – bis ihre Augen reif waren für die Effekte seiner Bilder. Einige seiner Skizzenbücher stehen exemplarisch für seine unzähligen Reisen, jahrzehntelang trieb es den Maler immer wieder in die Ferne – natürlich mit Pinsel und Staffelei im Gepäck.

Turner hat seinen Nachlass dem englischen Staat vermacht, außerhalb Großbritanniens kann man seine Werke deshalb nur selten sehen. Die Ausstellung im Lenbachhaus ist deshalb ein echter Coup. Mit seiner bedeutenden Sammlung von Werken des Blauen Reiter versteht sich das Lenbachhaus als Repräsentant der Moderne. Seit Jahren zeigt das Haus dabei nicht nur Künstler der klassischen Moderne selbst, sondern auch ihre Vorläufer. Deshalb ist William Turner mit seinen Seestücken, Schneestürmen, Sonnenuntergängen und Lawinen genau richtig im Münchner Untergrund.

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