Ingenieur bei der Arbeit am Großrechner
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Systemadministrator in Wladiwostok

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"Macht wird intransparent": Will Putin Netz-Zensur verschärfen?

Bei einem "Internet-Gipfel" im Kreml soll nach Wegen gesucht werden, Wikipedia und Youtube "vollwertig" zu ersetzen. Dabei sollen "bestimmte Erfahrungen" aus China genutzt werden. Die Selbstisolation Russlands habe sich schon in der Pandemie bewährt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Sogar Propagandisten sprechen von einem "Informationschaos" im Kreml, von einem "Versagen" der regierungsamtlichen Kommunikation und regen sich darüber auf, dass die Russen die "wichtigsten Ereignisse" der ausländischen Presse entnehmen müssen, wie es Politologe Sergej Markow ausdrückte. Das scheint aber kein Grund für Selbstkritik zu sein: Im Gegenteil, offenbar plant der Kreml ungeachtet aller Risiken eine massive Verschärfung der Netz-Zensur. Von einem "eisernen Informationsvorhang" ist die Rede, wobei vorerst unklar bleibt, ob es sich um eine reine Drohgebärde handelt oder konkrete Pläne.

"Tendenz zum Totalitarismus"

"Der Gesellschaft wird der Anschein von Solidität aufgezwungen", schreibt der russische Philosoph und Publizist Dmitri Michailitschenko in einer aufschlussreichen Bestandsaufnahme nach 500 Tagen Krieg. Das Ausmaß der Zensur und Selbstzensur habe die Meinungsverschiedenheiten in der Öffentlichkeit zwar "minimiert" und den "patriotischen Konsens" gestärkt - allerdings nur äußerlich, denn die Qualität der öffentlichen Verwaltung sei dadurch natürlich nicht verbessert worden und die Unzufriedenheit nicht verschwunden, ganz im Gegenteil: Die Russen hätten kaum noch Möglichkeiten, die Regierung zu kritisieren.

"Die Gesellschaft ist nicht totalitär geworden, unpolitische Einstellungen sind immer noch vorherrschend, aber der Verlust an Meinungsvielfalt und die Militarisierung, gepaart mit antiwestlichen und prochinesischen Entwicklungen, machen die weitere Tendenz zum Totalitarismus unausweichlich", so der Autor. Ein Indiz dafür sei die Einmischung des Kremls in das Freizeitverhalten der Russen. So würden unliebsame Musiker und Dichter in bisher nicht gekannter Weise drangsaliert. Nur beim Luxuskonsum gebe es dank der "Grauimporte" keine Einschränkungen.

"Selbstisolation kann funktionieren"

Offenbar ist der Kreml mit dem oben zitierten "Anschein von Solidität" und der bisherigen Zensur nicht ganz zufrieden: Unter der Leitung von Putins Verwaltungschef Anton Waino treffen sich nach Informationen des gewöhnlich gut informierten Portals "Russland kurzgefasst" am 12. Juli die wichtigsten Propagandisten im Kreml, um über die Abschottung des Internets zu beraten. So soll die Chefredakteurin des TV-Senders RT, Margarita Simonjan, über die "zentralen Probleme der Souveränität des russischen Internets" sprechen. Es soll um "vollwertige" Ersatzangebote für die vom Kreml ungeliebten Plattformen Wikipedia und Youtube gehen. Die Inhalte "zuverlässiger Medien" sollen in russischen Suchmaschinen Priorität bekommen und in den sozialen Netzwerken bevorzugt weiterverbreitet werden: "Die Zukunft des Internets liegt in den Händen von Margarita Simonjan."

Schon spotteten Beobachter, die russischen Eltern bekämen wohl erhebliche Probleme, ihre Kinder "patriotisch" zu erziehen, wenn Youtube abgeschaltet werde. Das sei aber technisch und inhaltlich kein Problem, heißt es von russischen Netz-Experten. Es werde zwar einen Niveauverlust geben, wenn Youtube ersetzt werden müsse, aber keinen "abgrundtiefen": "YouTube hat sich sein eigenes Grab geschaufelt, indem es die Honorierung von Videoinhalten in Russland eingestellt hat. Es reicht aus, den Autoren zumindest etwas zu zahlen, um die YouTube-Inhalte zu ersetzen und damit das Publikum anzusprechen." Propagandisten träumen von einer "Deglobalisierung" des Internets und einen "aktiven Kampf gegen Diffamierung" an der ideologischen Front: "Am Beispiel der Covid-Pandemie haben wir ja schon perfekt vorgeführt, wie Selbstisolation funktionieren kann."

Moskau will "bestimmte Erfahrungen" Chinas nutzen

Bei einer Tagung in St. Petersburg hatte Alexander Khinshtein, der Vorsitzende im Parlamentsausschuss für Medien, noch abgestritten, dass sich Russland künftig an Chinas Internetzensur orientieren werde. Das sei zwar "technisch möglich", aber nicht nötig, weil die Russen noch nicht "massenhaft und großflächig" die Zensur umgingen und ausländische Angebote nutzten, etwa mit Hilfe von VPN-Kanälen: "Der Großteil der Gesellschaft wird das nicht machen." Aber natürlich müsse der Kreml "bestimmte Erfahrungen" Pekings für sich nutzen.

Bereits im März hatten russische Medien von 41 chinesischen Netz-Experten gemunkelt, die nach Moskau angereist seien, um die "vollständige Sperrung von Youtube" vorzubereiten. Allerdings sei es schlicht nicht machbar, alle VPN-Umwege technisch zu unterbinden. Sogar aus Turkmenistan sei es möglich, ins weltweite Netz zu kommen, und in China nutze etwa ein Drittel des Publikums die Möglichkeit, unzensierte Inhalte zu lesen, obwohl VPN-Anwendungen strafbar seien. Es gebe dort ein endloses "Katz und Maus"-Spiel.

Ist alles nur "Tarnung" für Machtkämpfe?

Allerdings war in russischen Blogs auch zu lesen, dass der bekannte Oligarch Roman Abramowitsch mit weiteren Superreichen und Vertrauten derzeit an einer politischen Lösung des Ukraine-Kriegs arbeite und im Gegensatz zum Kreml an einer "Liberalisierung" der russischen Netzkultur interessiert sei. Er hoffe sogar auf eine "liberale Renaissance" und engagiere sich hinter den Kulissen für die Rückkehr von geflüchteten russischen TV-Promis ins Programm. Es scheint demnach aus den Kreisen der Oligarchen durchaus Widerstände gegen die "Selbstisolation" zu geben, was angesichts ihrer weltweiten Aktivitäten und Geschäftsinteressen kein Wunder wäre.

Möglicherweise flüchte sich der Kreml in reine Drohgebärden, mutmaßte ein Blogger, weil ihm nichts anderes übrig bleibe: Es gehe schon lange nicht mehr um das globale Gleichgewicht, sondern nur noch um das innerrussische. Daher die ständigen rhetorischen Ausfälle von Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der von Atomwaffen schwadroniert, daher das Gerede von "ideologischen Säuberungen", daher die Einberufung eines "Internet-Gipfels", obwohl Russland gar nicht in der Lage sei, die Zensur zu verschärfen. Es sei alles nur "Tarnung", um einen wüsten Kampf innerhalb der Elite zu vertuschen: "Das neue Gleichgewicht ist noch weit von der Phase des Aushärtens, Polierens und Präsentierens entfernt, die für Herbst geplant ist. Die nächsten Monate werden voraussichtlich besonders bewölkt und heiß."

"Politik wird als Sonderoperation betrieben"

Politologe Ilja Graschenschow fürchtet, dass eine Isolation Russlands im Netz nur ein Sinnbild der viel umfassenderen Abschottung der gesamte Kreml-Elite vor der Welt und dem eigenen Volk wäre: "Das Machtsystem wird völlig intransparent und sogar okkult. Die Verwaltung folgt längst nicht mehr einer staatlichen Logik, sondern betreibt Politik als Sonderoperation, als persönliches Projekt eines sehr engen Personenkreises. Das System verliert seine Erkennbarkeit und wird nicht mal mehr von den Eliten durchschaut, und in einer solchen Situation wird jede Übertragung der Macht zum Gegenstand von internen Kämpfen, die zu einem völligen Ungleichgewicht führen können. Genauer gesagt kann eine Machtübertragung, verstanden als politische Sonderoperation, dazu führen, dass sie gar nicht erst zustande kommt und das System sich stattdessen abschottet und dazu verdammt ist, die traurige historische Erfahrung in Zukunft zu wiederholen."

Weder die Zaren Iwan der Schreckliche und Peter der Große, noch Lenin und Stalin hätten ihre Nachfolge regeln können, gab der Blogger Konstantin Kalaschew zu bedenken. Aber es gebe wohl keine "Draufgänger" mehr, die den Mut hätten, den Mächtigen so unbequemen Fragen zu stellen.

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