Am 8. Juni bei einer Inspektionsreise
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Verteidigungsminister Schoigu (rechts) und Generalmajor Alexander Schestakow

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Kritik an Russlands Armee: "Krieg mit unserer eigenen Dummheit"

Putins Generäle sind nach mehreren fatalen Fehlern schwer unter Druck geraten, manche Blogger schimpfen auf "geschönte Berichte" und rufen sogar nach einem "Erschießungskommando". Die Verwirrung ist riesengroß: "Wir hoffen, dass es einen Grund gibt."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Wut der russischen Militärblogger kennt keine Grenzen: Sie schäumen über einen Divisionskommandeur, der in der Nähe der Frontstadt Kreminna seine Leute antreten und zwei Stunden unter freiem Himmel warten ließ, um vor einer geplanten Offensive eine "motivierende" Ansprache zu halten. Doch statt des Kommandeurs kamen ukrainische Raketen, die nach Angaben des russischen Portals Rybar (1,1 Millionen Follower) unter den Soldaten ein Massaker anrichteten. Von einer "kriminellen Dummheit" des Offiziers ist jetzt die Rede, die zu einem "tragischen Vorfall" geführt habe. Einer der Telegram-Blogger forderte sogar, Kommandeure zu erschießen, die ihr Personal "in einem großen Haufen antreten ließen und auf den Angriff der feindlichen Artillerie" warteten: Das gelte auch, wenn es sich dabei um Oberste oder "sogar Generäle" handle.

Ukrainische Kanäle wollten erfahren haben, das es sich bei dem unrühmlichen Kommandeur um den tschetschenischen General Suchrab Achmedow von der 20. russischen Armee handeln soll. Sie argwöhnten, womöglich hätten die Leute des berüchtigten Söldnerführers Jewgeni Prigoschin den Vorfall ans Licht gebracht, um den von ihnen gehassten Konkurrenten und tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow und das ebenso unbeliebte russische Verteidigungsministerium bloßzustellen. Von dem "unterhaltsamen Durcheinander" zeigten sich Netzkommentatoren beeindruckt.

Ruf nach "elektrischem Besen"

"Wir befinden uns im Krieg mit unserer eigenen Dummheit und Schlamperei, beschmiert von oben mit geschönten Berichten", schimpfte einer der wichtigsten russischen Blogger, ohne auf eine offizielle Bestätigung des peinlichen Geschehens zu warten. Andere forderten, die Feldpolizei sollte mit einem "elektrischen Besen" durch die Reihen der Verantwortlichen fegen, wieder andere sprachen abfällig von "Degenerälen" und schrieben: "Müssen wir dieses Mal mit einer Strafe für sie rechnen, oder wird sich alles wiederholen? Für uns ist diese Frage leider nur eine rhetorische." Nicht wenige vermuteten, dass nicht die verantwortlichen Offiziere, sondern die Blogger belangt würden, die von dem Zwischenfall berichteten.

Bereits vor Tagen hatte die ukrainische Armee das Hauptquartier der russischen 35. Armee in Primorsk bei Berdjansk angegriffen, wobei nicht nur der General und stellvertretende Kommandeur Sergej Gorjaschew getötet wurde, sondern auch rund zwanzig weitere Offiziere fielen oder verwundet worden sein sollen. Kommandeur Sergej Nirkow sei "schwer verletzt", war im Exil-Blatt "Novaya Gazeta Europe" zu lesen. In der entsprechenden Armee gebe es inzwischen einen "erheblichen Mangel an Führungspersonal".

Dazu kommen für das Verteidigungsministerium höchst unliebsame Meldungen von Auseinandersetzungen innerhalb der Truppe. So erschoss der Feldwebel Roman Boldyrew nach Angaben russischer Ermittler bei Bachmut mit einem Maschinengewehr fünf Artillerie-Kameraden, weil die ihn zuvor verprügelt hatten. Der mutmaßliche Täter flüchtete im Auto. Ähnliche, allerdings weniger schwerwiegende Vorfälle gab es in den letzten Monaten häufiger.

"Aus Panik entstandene Hysterie"

Der ehemalige Chef der russischen Weltraumbehörde und jetzige Front-Propagandist Dmitri Rogosin schrieb: "Wovor haben wir Angst? Erstens: Die Absprachen der sogenannten 'Partei des Friedens' hinter unserem Rücken. Zweitens: Wir brauchen Reserven, wir brauchen Nachschub. Es ist wie im Sport – die Startelf der Nationalmannschaft wird manchmal müde und verletzt sich. Deshalb brauchen wir eine Bank mit guten Ersatzspielern."

Ein weniger zuversichtlicher Exil-Blogger sah Anzeichen für eine heraufziehende Niederlage der russischen Armee: "Wie anders soll man die jüngsten hysterischen Appelle und Drohungen betrachten, die jetzt von allen Seiten auf uns einströmen? [Kreml-Philosoph Alexander] Dugin fordert das Verteidigungsministerium auf, alles Mögliche zu tun (Kiew mit Raketen überschwemmen, Truppen in Dnipropetrowsk landen, Odessa angreifen, einen Aufstand in Lemberg auslösen), [Belarus-Präsident] Lukaschenko droht, eine Million Menschen durch einen Atomschlag zu töten, und [Außenpolitiker] Karaganow fordert einen präventiven Atomschlag auf Europa, der den Westen davon überzeugen soll, die Militärhilfe für die Ukraine einzustellen. Was ist das anderes als eine aus Panik entstandene Hysterie?"

Lukaschenko machte übrigens nicht nur mit atomaren Drohungen von sich reden, sondern auch mit dem absurden Vorschlag, Russland könne die Krim ja langfristig von der Ukraine "pachten". Das sei bereits letztes Jahr ins Auge gefasst worden. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sah sich daraufhin veranlasst, die Krim als "integralen Bestandteil Russlands" zu würdigen.

"Wir hoffen, dass es eine Begründung gibt"

In russischen Patrioten-Kreisen geht es buchstäblich drunter und drüber im Informationskrieg: Aktuell sorgt ein vermeintlicher Angriff der Ukraine auf den russischen Parlamentsabgeordneten und tschetschenischen Politiker Adam Delimchanow für aufgebrachte Stellungnahmen. Der Mann ist ein enger Vertrauter und Cousin des regionalen Machthabers Ramsan Kadyrow. Delimchanow sollte nach Angaben aus dem russischen Parlament schwer verwundet oder sogar getötet worden sein, offiziell bestätigte Informationen fehlten - was die Blogger erboste. Manche spekulierten sogar, es habe aus den eigenen Reihen, nämlich von Söldnerführer Prigoschin, einen verräterischen "Hinweis" auf den genauen Aufenthaltsort von Delimchanow gegeben: "In Russland wollen weit mehr Menschen seinen Tod als in der Ukraine."

"Wenn das alles Teil einer Kampagne zur Irreführung des Feindes ist, dann findet diese Kampagne irgendwie frontal vor unserer Stirn statt. Wir hoffen, dass es wirklich eine Begründung dafür gibt", hieß es bei "Rybar" missmutig. Andere Blogger hielten sich nicht so diplomatisch zurück: Seit die Ukraine ihre Offensive gestartet habe, gebe es geradezu eine "Massenflucht" von russischen Beamten und Politikern aus der gefährdeten Zone. Die "mutigen TikTok-Kämpfer" brächten sich in der Etappe in Sicherheit, obwohl sie ohnehin nur in der "dritten oder vierten Verteidigungslinie" gesessen hätten, was besonders für Kadyrows Leute gelte. Das ist umso bemerkenswerter, weil Kadyrow einer der radikalsten Propagandisten Putins ist.

"Das bringt einen zum Heulen"

Alles sei "viel schlimmer" als angenommen, Putin werde von seinen "Höflingen" bösartiger hintergangen als von Fremden, das allgemeine Misstrauen im Kreml habe ein "neues Niveau" erreicht. Zum Beweis verwies ein Blogger darauf, dass Tschetschenen-Führer Kadyrow den ukrainischen Geheimdienst nach dem Verbleib seines Kumpels Delimchanow fragte, was sich allerdings im Nachhinein als ironische Propaganda-Aktion erwies: "Unter solchen Umständen ist es absolut nicht verwunderlich, dass Kadyrow mehr Vertrauen in die Geheimdienstinformationen des Feindes hat als in alle russischen staatlichen Strukturen, aber ehrlich gesagt, das bringt einen zum Heulen."

Am Ende verbreitete Kadyrow die Mär, es sei gar nichts passiert, Delimchanow gehe es bestens: "Danke an alle, die sich Sorgen gemacht haben! Adam ist gesund und munter und nicht einmal verletzt. Das wusste ich von Anfang an, aber ich beschloss, allen, vor allem den Ukrainern, zu zeigen, wie tief ihre Medien gesunken sind."

Ungeachtet dessen hieß es in den nationalistischen Kreisen, die mutmaßliche "Blutfehde" zwischen den Söldner-Truppen könne für Russland "katastrophale Folgen" haben. "Das System bricht direkt vor unseren Augen zusammen", klagte ein Kommentator hilflos, keiner wisse derzeit, wem die Kadyrow-Mannschaft eigentlich gehorche: "Der Präsident wurde in die Irre geführt." Ein befremdeter Blogger meinte: "Auffallend ist der Zynismus der Tschetschenen, die sich Witze über Dinge wie Befehlsverweigerung während der Spezialoperation und den Abzug von Einheiten aus dem ihnen anvertrauten Sektor erlauben. Und es ist sehr bezeichnend, dass viele Menschen daran geglaubt haben." So, wie die Lage nun mal sei, bleibe wohl nur noch übrig, "schlechte Witze" zu machen.

Prigoschin gibt Putin einen Korb

Derweil ignorierte Söldnerführer Jewgeni Prigoschin von der "Wagner"-Truppe demonstrativ Putins Aufforderung, einen förmlichen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium abzuschließen: "Als wir begannen, an diesem Krieg teilzunehmen, sagte niemand, dass wir verpflichtet seien, Vereinbarungen mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen. Keiner der Wagner-Kämpfer ist bereit, noch einmal den Weg der Schande zu beschreiten. Und so wird niemand Verträge unterschreiben."

Er habe 20.000 Gefallene zu beklagen, so Prigoschin, der fragte, ob die auch alle nachträglich einen Vertrag abzeichnen sollten. Putin werde schon eine "Kompromisslösung" finden: "Das Verteidigungsministerium ist ein wichtiges staatliches Organ, eine wichtige Struktur. Aber wenn es von einer Gruppe von Einzelpersonen gekapert wird, bedeutet das nicht, dass wir uns an diesem Verbrechen beteiligen sollten."

Das wurde als "offene Konfrontation" verstanden. Der im Ausland weilende Politologe Abbas Galljamow schrieb: "Für Putin wird es immer schwieriger, seiner Rolle als Moderator in den Beziehungen innerhalb der Elite gerecht zu werden." Prigoschin kündigte an, seine Truppe, die sich gerade "erholt und weiterbildet", werde ab 5. August wieder an der Front stehen, wo genau, verriet er nicht. Das Verhalten des Söldnerchefs sei nur noch mit der gerissenen Theaterfigur des Truffaldino in der Carlo-Goldoni-Komödie "Diener zweier Herren" zu vergleichen, meinte ein Newsfeed.

Putin: "Wow, das wusste ich nicht"

Der populäre Blogger Alexander Sladkow (1,1 Millionen Fans) war so indiskret, vom jüngsten Treffen seines Berufsstands mit Putin zu berichten. Drei Stunden war die Begegnung im Fernsehen übertragen worden, doch danach hätten die Beteiligten noch eine halbe Stunde hinter verschlossenen Türen über die "Probleme mit untereinander verfeindeten russischen Einheiten" gesprochen, worunter in erster Linie die Egomanen Prigoschin und Ramsan Kadyrow zu verstehen sind. Dabei habe Putin auf Vorhaltungen der Blogger häufiger in sein Notizbuch geschrieben und gesagt: "Wow, das wusste ich nicht" oder auch: "Das höre ich zum ersten Mal." Er wolle alles mit dem Verteidigungsminister besprechen, wohl auch den "großflächigen Ausfall moderner Ausrüstung", den Putin laut anderen Quellen beim Blogger-Talk beklagte.

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