Tassen mit den Porträts von Lenin, Stalin und Putin
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Revolutionäre Devotionalien in Russland

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"Jetzt ist nichts mehr unmöglich": Wie "revolutionär" ist Putin?

Der russische Präsident habe die traditionelle Ordnung seines Landes untergraben, wie einst König Ludwig XVI. vor der französischen Revolution, argumentiert Politologe Abbas Galljamow. Damit gebe es für die Bevölkerung keinen "mentalen Anker" mehr.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Er war früher Putins Redenschreiber und kennt die Verhältnisse im Kreml aus eigener Erfahrung: Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow. Jetzt überraschte er mit einer ungewöhnlichen Analyse: Putin habe die geistigen Grundlagen zerstört, die seinen Aufstieg erst ermöglicht hätten. Insofern sei er mit dem französischen König Ludwig XVI. vergleichbar, der ebenfalls am Ast gesägt habe, auf dem er selbst saß. Tatsächlich argumentierte der von Galljamow zitierte berühmte französische Politiker, Historiker und Publizist Alexis de Tocqueville (1805 - 1859) in seinem Buch "Der alte Staat und die Revolution", noch wenige Jahre vor der französischen Revolution habe das Volk überhaupt keinen Umsturz gewollt: "Es wünschte Reformen mehr als Rechte."

"Es schien, als fiele die letzte Schranke"

Tocqueville behauptete, ein "Fürst von Begabung", etwa der preußische König Friedrich II., hätte zu diesem Zeitpunkt "größte Veränderungen" auf den Weg bringen können, ohne seine Krone zu verlieren. Erst als Ludwig XVI. 1771 die traditionsreichen Parlamente aufgelöst habe, sei das Publikum "tief erschüttert" gewesen: "Es schien, als fiele mit ihnen die letzte Schranke, welche die königliche Willkür noch aufzuhalten vermochte." Das ganze Land sei durch die Abschaffung dieser altehrwürdigen Institutionen in "Gärung und Bestürzung" versetzt worden, so kein Geringerer als der Philosoph Voltaire (1694 - 1778).

Putins Regime habe auch viele Jahre auf der "sehr alten autoritären Tradition Russlands" aufgebaut, so Galljamow: "Die Formel 'Das war schon immer so' war lange Zeit ein zentrales Argument für die Beibehaltung des Status quo." Dazu habe die "jahrhundertealte Freundschaft zweier brüderlicher Völker – der Russen und Ukrainer" gehört, als "mentaler Anker": "Für die russische öffentliche Meinung war es ebenso unmöglich, sich einen russisch-ukrainischen Krieg vorzustellen wie ein demokratisches Russland." Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten habe Putin ausgelöscht.

"Konservative Ordnung existiert nicht mehr"

"Indem er eine scheinbar undenkbare 'Sonderoperation' gegen die Ukraine entfesselte, zeigte Putin, dass das Land keine Traditionen mehr hat, die nicht abgeschafft werden können – einschließlich derjenigen, auf denen seine Macht beruht", so Galljamow: "Das Argument 'Demokratie ist in Russland unmöglich' ist nicht mehr stichhaltig; in Russland ist seit vorletztem Jahr alles möglich." Putin habe den "Konservatismus" solange gefördert, wie er ihm selbst nutzte und ihn dann entsorgt, also ein höchst dialektisches Verhältnis zur viel beschworenen Tradition. Galljamows Fazit: "Die konservative Ordnung existiert nicht mehr."

"Entscheidungen von krankhafter Fantasie inspiriert"

Exil-Politologe Wladimir Pastuchow vergleicht das klassische revolutionäre Trio Karl Marx, Friedlich Engels und Wladimir I. Lenin mit dem Rechtsradikalen Alexander Dugin, dem ultrapatriotischen russischen Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew und Putin: "Sie sind so unterschiedlich und doch gehören sie zusammen – wie drei Quellen, drei Komponenten des modernen Putinismus." Sie alle hätten "Wahnvorstellungen" über die Welt im Allgemeinen und Russland im Besonderen.

Zwar glaubten viele, Putin und seine Getreuen, darunter der selbst ernannte "Wunderheiler" Dugin, verbreiteten allenfalls "Propaganda-Blödsinn" und würden im Fall des Falles immer eine "pragmatische Entscheidung" fällen und an ihr eigenes Wohlergehen denken, doch das sei durchaus fraglich: "Tatsächlich kann es sein, dass sie in einem schicksalhaften Moment eine Entscheidung treffen, die von Illusionen diktiert wird, die von ihrer krankhaften Fantasie inspiriert ist."

Die Rhetorik Putins ist bisweilen tatsächlich "umstürzlerisch". So kündigte er in seiner Rede zur Lage der Nation Ende Februar einen "Elitenwechsel" an, was allerdings überwiegend als reine Propaganda interpretiert wurde. Immerhin gab es auch Stimmen, die einen "wahrhaft epochalen Schritt" erwarten nämlich die Rückabwicklung der Privatisierung der neunziger Jahre und damit auch die (weitere) Entmachtung der Oligarchen, um die "Schleusen für die Karrieren" von loyalen Apparatschiks zu öffnen.

"Das ist bei allen Autokratien passiert"

Der kremlkritische Politologe Wladislaw Inosemtsew hält Putin zwar auch für "revolutionär", ist jedoch überzeugt, dass der Präsident dadurch mittelfristig seine Position gefestigt hat: "Es ist sinnlos, auf Veränderungen in der russischen Gesellschaft zu hoffen – Sie müssen Veränderungen bei sich selbst vornehmen, egal wo Sie sind." Inosemtsew empfiehlt allen Regimegegnern im Land, die gegebenen Verhältnisse zu akzeptieren und nicht Tag für Tag auf einen Umsturz zu hoffen. Derzeit gebe es keine Voraussetzungen für eine "Rückkehr zur Normalität". Der allgemeine Pessimismus der Dissidenten komme also nicht etwa zu früh, sondern eher zu spät.

"Die Strategie des Abwartens, bei der jeder Tag, der keine guten Nachrichten bringt, nur den Grad der Empörung steigert, sollte durch eine Lebenseinstellung ersetzt werden, die darauf basiert, dass jeder Tag für Sie persönlich, für Ihre Kinder und Ihre Lieben nicht umsonst war", so Inosemtsew, der allerdings wie Galljamow auch davon ausgeht, dass Putin sich auf Dauer selbst abschafft: "Sich selbst zu erhalten und voranzukommen ist jetzt das Wichtigste, schon allein deshalb, weil keiner von uns mehr für den Wandel tun wird als das aktuelle System selbst. Das ist bei allen Autokratien passiert, und das wird auch bei dieser geschehen."

"Man kann sich die Zeit nicht aussuchen"

Mit seinen Ansichten löste Inosemtsew eine breite Debatte aus. Einer der Blogger verwies auf die auch auf Deutsch erschienene Satire "Der Koffer" des russischen Autors Sergej Dowlatow (1941 - 1990), worin er die Perspektivlosigkeit russischer Emigranten in der Endphase der Sowjetunion beschrieb. Mangels "strahlender Zukunft" hätten sie sich ihrem Narzissmus gewidmet und seien in den Alkoholismus abgerutscht.

Ein weiterer Beobachter zitierte angesichts der verbreiteten Trübseligkeit unter Dissidenten den St. Petersburger Dichter Alexander Kuschner, der lakonisch schrieb: "Man kann sich die Zeiten nicht aussuchen, man lebt und stirbt mit ihnen." Vermutlich gehe es vielen Emigranten inzwischen nur noch ums "banale Überleben": "Daher ist mit einer zweiten, vielleicht viel größeren Welle von 'Rückkehrern' zu rechnen, die psychisch noch stärker geschädigt sind als die Vertreter der ersten."

"Viele öffneten ihre Herzen nur vor sich selbst"

Politologe Dmitri Michailitschenko behauptet, die russischen Behörden seien sich über die "soziale Unzufriedenheit" der Großstädter zwar im Klaren, würden dieses Bedürfnis jedoch "aus offenkundigen Gründen" ignorieren. Die Folge sei eine Zunahme der inneren Emigration, die Michailitschenko mit einem Zitat des altgriechischen Philosophen Epikur auf den Punkt bringt: "Lebe im Verborgenen." Epikur lehnte jede Art politischer Tätigkeit ab und empfahl, sich im privaten Kreis Gleichgesinnte zu suchen.

"Die innere Emigration ist im modernen Russland eine Grundvoraussetzung und längst ein ziemlich weit verbreitetes Phänomen", so der Politologe: "Unsere Großeltern und Urgroßeltern hätten auch dann keine Beiträge in sozialen Netzwerken geschrieben, wenn es die Mitte des 20. Jahrhunderts schon gegeben hätte. Aber viele von ihnen führten Tagebücher und öffneten ihre Herzen allein vor sich selbst. Durch die bittere Erfahrung der Massenrepressionen wussten sie, wie man schweigt und sich in sich selbst zurückzieht. Natürlich ist es angenehm, Freude und Endorphine ('Glückshormone') durch Likes in sozialen Netzwerken zu erhalten, aber unter den aktuellen Bedingungen bevorzugen immer mehr Menschen die Vorsicht und verzichten auf diese Art der persönlichen Selbstverwirklichung."

Insofern sei jetzt die "Zeit der Stille und des Lese-Sessels" angebrochen, zumal sich nur Propagandisten öffentlich äußerten: "Für anständige Menschen ist es besser, solche Dinge nicht zu lesen oder anzuhören: weder vor dem Mittagessen noch danach."

"Putin kann jederzeit abstürzen"

Blogger Dmitri Sewrjukow will in Russland derzeit ein "Gleichgewicht" zwischen Protest und Anpassung erkennen, hält Putin für einen "Seiltänzer", der durch unerwartete Luftzüge jederzeit abstürzen kann und ist überzeugt, dass es dem Präsidenten vor allem darum geht, keine neue Aufregung zu erzeugen, schon gar nicht vor der Präsidentschaftswahl: "Ein großer Teil des Landes wartet nun gespannt nicht auf die Ergebnisse, sondern darauf, was danach passieren wird. Natürlich wissen das die Oberen und sind daher wahrscheinlich an einer Politik interessiert, die dafür sorgt, dass die Wölfe gut genährt werden, während die Schafe sich einigermaßen sicher fühlen sollen. Bisher ist es dem Staat ganz gut gelungen, Lebens- und Arbeitsbedingungen aufrechtzuerhalten, die es sowohl denjenigen ermöglichen, innerhalb des Systems zu existieren, die für das Regime sind, als auch denjenigen, die schweigen, aber stöhnen."

Wie nervös der Kreml ist, wird aus der Meldung deutlich, wonach ein Gesetzentwurf des russischen Parlaments, der Militärbloggern die Arbeit erschweren sollte, vorerst nicht auf den Weg gebracht wird, wie das liberale Wirtschaftsblatt "Kommersant" erfahren haben will. Die regimetreuen Politiker ärgern sich darüber, dass auf weitgehend unzensierten russischen Telegram-Kanälen ständig über russische Verluste und Einschlagsorte informiert wird. Deshalb wurden drastische Strafen vorgeschlagen. Doch der Kreml wolle ein "Gleichgewicht zwischen Informationsfreiheit und -beschränkung" wahren und "insbesondere Soldaten keinen Schaden zufügen", hieß es.

Exilmedien wie die Amsterdam erscheinende "Moscow Times" leiteten daraus ab, dass Putin es derzeit "nicht wage", den in Echtzeit berichtenden ultrapatriotischen Bloggern entgegenzutreten.

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