Vor roten Nelken steht ein eingerahmtes Foto von Nawalny mit seinen Lebensdaten
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Nawalnys Beerdigung: Foto des Verstorbenen

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"Wir glauben jedes Wort": Taktierte Putin mit Nawalnys Tod?

Noch am Sterbetag des russischen Oppositionspolitikers soll Putin über einen Austausch gegen Geheimdienstagenten verhandelt haben - zum Schein, wie Kremlkritiker vermuten. Offiziell hieß es, der Tod als solcher sei eine "menschliche Besonderheit".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Vier Stunden, bevor der Tod von Alexej Nawalny bekannt wurde, soll der russische Präsident Putin mit dem Milliardär Roman Abramowitsch zusammengesessen sein, um den Austausch des Regimekritikers gegen im Westen einsitzende russische Agenten abzusegnen, berichtet das gewöhnlich gut unterrichtete russische Exil-Nachrichtenportal "Agents" unter Berufung auf vier Gesprächspartner. Demnach habe der russische Präsident zugestimmt, Nawalny in den Westen ausreisen zu lassen, wenn dafür der in Deutschland als "Tiergartenmörder" inhaftierte Wadim Krassikow freigelassen werde. Der verurteilte Agent hatte am 23. August 2019 in Berlin einen aus Tschetschenien stammenden georgischen Ex-Offizier erschossen, der einst gegen Russland gekämpft hatte, was als staatlicher Auftragsmord eingestuft wurde.

Alles nur Berechnung?

Putin hat nach Angaben der Gesprächspartner von "Agents" auch vorgehabt, den in Russland wegen "Spionage" inhaftierten amerikanischen Marinesoldaten Paul Whelan und den ebenfalls wegen angeblicher Geheimdiensttätigkeit festgenommenen "Wallstreet Journal"-Korrespondenten Evan Gershkovich auszutauschen. Doch das alles sei nur Berechnung und rein taktisch motiviert gewesen, wird der im Ausland tätige russische Investigativ-Journalist Christo Grosew zitiert. Er vermutet, dass Putin zum Schein mit Abramowitsch konferierte, tatsächlich aber längst den Befehl zur "Ermordung" von Nawalny gegeben habe. Ob der Kreml die ihm unterstellte Tat "vertuschen" oder lediglich diplomatische Vorteile herausschlagen wollte, darüber maßte sich Grosew kein Urteil an.

Weggefährten von Nawalny hatten bereits im Februar behauptet, die Verhandlungen über einen Austausch des inhaftierten Oppositionspolitikers seien "weit gediehen" gewesen, während US-Blätter wie die "New York Times" erfahren haben wollten, die entsprechenden Sondierungen sei in einem sehr "frühen Stadium" gewesen. Laut "Agents" hatte die deutsche Bundesregierung bereits im vergangenen Sommer einem Austausch Nawalnys gegen Krassikow grundsätzlich zugestimmt. Außenministerin Annalena Baerbock sei an der Abstimmung persönlich beteiligt gewesen. Im Februar hätten US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz einen entsprechenden Deal angedacht.

"Insbesondere keine unangenehme Überraschung"

Diese Berichterstattung löste in Russland neuen Wirbel aus. Christo Grosew hatte gesagt: "Ein Szenario schließe ich vorerst völlig aus: dass Nawalnys Tod für die russischen Behörden eine Überraschung, insbesondere eine unangenehme Überraschung, war. Nun, ich glaube nicht, dass er einfach 'schlecht behandelt' oder 'fahrlässig' in einen solchen Zustand gebracht wurde. Ausgeschlossen. Weil der FSB [russischer Inlandsgeheimdienst] den Wert Nawalnys für das zukünftige Russland genau kannte, egal wie es aussehen würde. Alexey würde zum Kapital für zukünftige Verhandlungen, für einen Austausch werden. Und sie konnten das nicht einfach 'ausblenden'."

Grosew will den Tod Nawalnys nach eigenen Worten investigativ aufklären und verwies darauf, dass an einem kleinen Ort wie dem arktischen Straflager, in dem der Oppositionelle starb, ein "FSB-Fahrzeug" mehr aufgefallen sein müsse als in einer Großstadt.

Der Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts, Sergej Naryschkin, hatte in einer TV-Sendung am 5. März wörtlich gesagt: "Leider haben Menschen eine Besonderheit – früher oder später endet das Leben, sie sterben. Nawalny ist eines natürlichen Todes gestorben, ja." Irgendeine "Sonderaktion" schloss er aus. Diese "offizielle" Stellungnahme löste große Verwunderung aus. "Sergej, wir glauben jedes Wort, das du sagst", hieß es dazu ironisch von einem Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka". Andere fragten sich, ob Naryschkin neuerdings "Gerichtsmediziner" sei oder wie er sich erkläre, dass ein "Notarztteam drei Tage vor Nawalnys Tod an- und zwei Tage danach abreiste".

"Alles ist so natürlich!"

Nichts sei "natürlicher als der Tod nach einem Gefängnisspaziergang", wurde gehöhnt: "Selbstverständlich starb Nawalny den eigenen Tod und nicht den eines anderen." In Russland könne man "unter der Dusche" ebenso zu Tode kommen wie bei Flugzeugabstürzen und an der Seite schöner Frauen oder mit Bleivergiftung, meinte ein Leser mit Hinweis auf das Ableben anderer Regimekritiker und der Söldnerchefs Prigoschin und Utkin: "Alles ist so natürlich!" Und direkt an den Geheimdienstchef gerichtet schrieb einer: "Naryschkin, die Hauptsache ist, dass du nicht stirbst, dein Leben wird bis zu deinem Tod doch noch so ereignisreich verlaufen."

Eines der größten russischen Newsportale beruft sich auf einen ehemaligen Mithäftling von Nawalny, der Einzelheiten über dessen Haftumstände mitteilte. Mit der Ankunft des Oppositionellen im arktischen Straflager seien auch am Wochenende "Morgenübungen" eingeführt worden. Den Gefangenen seien Prügel angedroht worden, wenn sie Nawalny auch nur ansahen. Sie hätten sich bei Appellen immer mit dem Rücken zu ihm aufstellen müssen. Mehrere Gefangene hätten Nawalny bei jedem Toilettengang als "Begleitziegen" einrahmen müssen, und zwar lauter Langzeit-Insassen, bei denen nicht zu befürchten war, dass sie vor ihm freikämen und darüber sprechen konnten.

"Warteschlangen" sind verdächtig

Nawalny habe ganz allein essen müssen, alle anderen seien per Glocke währenddessen in die "Fernsehstube" gezwungen worden. Sobald der Putin-Gegner sich über das Gelände bewegt habe, habe "niemand seine Räume verlassen oder auch nur aus dem Fenster schauen dürfen: "Das passierte nicht einmal, wenn ein General in die Kolonie kam." Bei der Arbeit an der Nähmaschine sei der Regimekritiker von elf Personen überwacht worden.

Inzwischen haben die russischen Behörden Nawalny-Porträts und die Erwähnung seines Namens als "extremistisch" eingestuft. Es kam deshalb zu ersten Festnahmen. Bloggern war aufgefallen, dass russische Behörden nach Nawalnys Tod verdächtig oft das Wort "Warteschlange" benutzten, um Suchmaschinen davon abzuhalten, ständig die Nachrichten über den Andrang an Nawalnys Grab ganz vorn aufzulisten. Lehrer hätten Schüler nach dem Tod des Regimekritikers verstärkt in "Präventionsgesprächen" vor jeder Art von Kundgebung gewarnt.

"Bis die Worte eine Wunde ins Herz reißen"

"Innerhalb nur eines Monats wurden dem Kreml zwei inakzeptable Bilder beschert – 'Warteschlangen für Nadeschdin' (bei der Unterschriftensammlung für dessen Präsidentschaftskandidatur) und 'Warteschlangen für Nawalny' (auf dem Friedhof). Es ist fast unmöglich, dies als etwas anderes als eine Ablehnungsfront zu interpretieren. Trotz eines Jahrzehnts des Terrors und zweier Kriegsjahre wurde der Protest nicht unterdrückt, und die Hydra der Revolution ist bereit, bei der ersten Gelegenheit ihren Kopf zu erheben", so Politologe Wladimir Pastuchow.

Der kremlkritische Journalist Iwan Tschekalow erinnerte im Zusammenhang mit Nawalnys Tod an ein Buch des britischen Kulturwissenschaftlers Mark Fisher (1968 - 2017) über dessen Depression ("Gespenster meines Lebens", 2015). Darin habe der Autor ausgeführt, dass er solange krank war, bis er gemerkt habe, dass nicht er, sondern seine Umgebung das eigentliche "Problem" gewesen sei: "Das Problem liegt nicht bei uns. Es ist nicht unsere Schuld, dass wir gedemütigt werden. Und wir haben das Recht, wütend zu sein. Nein, wir müssen sogar wütend sein! Sagen Sie sich: Sie haben uns die Hoffnung genommen. Sagen Sie es einmal und wiederholen Sie es endlos, bis die Worte eine Wunde in Ihr Herz reißen. Um zu verhindern, dass die Liebe verkümmert – und um rechtzeitig wieder Hoffnung zu schöpfen."

"Wir werden es versuchen, Alexej"

Dem englischsprachigen Portal "Re:Russia" war zu entnehmen, dass viele kremlkritische Russen ihren Unmut in die Kommentarspalte des Musikvideos "My Way" von Frank Sinatra hineinmogelten, ein Lied, das zur Beisetzung von Nawalny gespielt worden war: "Natürlich sollten wir die politische Bedeutung dessen, was wir in diesen traurigen Tagen erlebt haben, nicht überbewerten. Das ist noch kein offener politischer Protest, aber es ist ein klares Zeichen für einen verdeckten Massenwiderstand, der eines Tages zur Grundlage eines offenen Protests werden könnte."

Tatsächlich finden sich auf YouTube unter dem Song zahlreiche russischsprachige Kondolenz-Botschaften für Nawalny: "Es ist nicht der Tod, den ein Mensch fürchten sollte, sondern ein Leben, das nie geführt wurde." Die erste Liedzeile "And now the end is near" (Und jetzt naht das Ende) wurde häufig zitiert. Ein Fan schrieb: "Es ist so seltsam, als ich noch ein Schulmädchen war, stritt ich mit den Lehrern über Nawalnys Ansichten, als ich während einer Kundgebung zur Unterstützung für ihn im Klassenzimmer eingesperrt war. Ich ging mit einem Strauß aus weißen und blauen Blumen zum Grab von Alexej. Es tut weh, so wahnsinnig weh, und ich kann überhaupt nicht glauben, dass so ein Mensch sterben könnte. Das schöne Russland der Zukunft wird wahr werden, ich glaube daran, wie viele Menschen, wir werden es versuchen, Alexej!"

"Optimismus ist nicht in Mode"

Politologe Michail Winogradow meinte in einem Essay für die Carnegie-Stiftung, Nawalny sei für den Kreml vor allem wegen seiner unerschütterlichen Zuversicht gefährlich gewesen: "In der russischen Politik ist Optimismus weder akzeptiert noch in Mode. Der offizielle Mainstream geht davon aus, dass die Welt immer gefährlicher und schlechter wird, und das zwingt uns dazu, zwischen Moral und Härte zu wählen."

Im Übrigen habe Nawalny Politik für viele Russen erst verständlich gemacht: "Seine Methode, alle russischen Probleme mit Korruption zu erklären, war inhaltlich nicht unumstritten und die These von der persönlichen Bereicherung als Hauptantrieb jedes Regierungshandelns wurde seit [dem Kriegsausbruch von] 2022 sehr in Frage gestellt. Dennoch wirkte diese These auf viele Bürger äußerst überzeugend und veranlasste die Behörden sogar dazu, eigene Antikorruptionsprojekte zu starten."

"Ort und Zeit können nicht geändert werden"

Unterdessen bereiten Nawalnys Anhänger bei der kommenden russischen Präsidentschaftswahl unter dem Motto "Mittag gegen Putin" eine Protestaktion vor. Demnach sollen Regimekritiker bei der mehrtägigen Wahl am 17. März um 12.00 Uhr in die Wahllokale strömen und den Namen von Nawalny auf den Stimmzettel schreiben oder sonst wie ungültig wählen. Einer der Inspiratoren ist der St. Petersburger Exil-Politiker Maxim Resnik: "Ich ging von Nawalnys These aus, dass heute die Aufgabe eines jeden Menschen – egal ob Journalist, Aktivist oder Hausmeister – darin besteht, dem Putin-Regime jeden Tag Schaden zuzufügen. Wenn Sie das nicht tun, bedenken Sie, dass Sie den Tag umsonst verbracht haben. Wir haben zwei Dinge ausgewählt, die nicht vom Kreml abhängen: Ort und Zeit des Treffens – sie können nicht geändert werden."

Der als Kandidat abgelehnte Boris Nadeschdin wollte sich zur Aktion "Mittag gegen Putin" nicht konkret äußern, sagte jedoch, seine Anhänger wollten am 17. März in den Wahllokalen erscheinen: "Ansonsten mische ich mich da nicht ein."

Video: Protest bei Nawalny-Trauerfeier in Moskau

Protest bei Nawalny-Trauerfeier in Moskau
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Protest bei Nawalny-Trauerfeier in Moskau

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